: Ein Türke geht nicht in die Oper
Kommen sie nie in unserem Land an? Ist Deutschland kein geographischer Raum, sondern ein Gemütszustand, den man nie erreicht? Bleiben die Fremden weiter von Beruf Lückenbüßer? Wann endlich wird aus der Minderheit ein Teil, der mit der Mehrheit das Ganze bildet? ■ FRAGEN VON ZAFER SENOCAK
Deutschland — Heimat für Türken? Diese Frage stellten wir uns vor eineinhalb Jahren. Die deutsche Vereinigung war im Gange und raste an uns vorbei wie ein Zug, in dem wir jedoch selbst saßen. Wir waren mitten in diesem Land, in dem wir aufgewachsen sind, verbunden mit seinen Straßen, Plätzen, Städten und Menschen, aber wir waren auch draußen, weil die Symbole, die plötzlich wieder aus den verstaubten Akten der Geschichte hervorgekramt wurden, uns nichts sagten.
Wir teilen die Gegenwart Deutschlands mit den Deutschen, nicht jedoch ihre Geschichte. Hatten unsere auch widersprüchlichen Symbole Platz in diesem nach seiner Geschichte als nach einem Fixpunkt greifenden Land? Deutschland war nicht nur ein geteiltes Land gewesen, sondern auch ein von seiner Geschichte getrenntes. Die Deutschen fühlten sich in der wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik geradezu befreit von der Last der nationalen Symbole (bis auf die D-Mark), die für Franzosen oder Engländer so selbstverständlich sind. Das erleichterte nicht nur den Deutschen, die eigene Geschichte zu vergessen, sondern auch dem Einwanderer, eine Auseinandersetzung mit ebendieser Geschichte zu vermeiden. Was konnte den Türken das Brandenburger Tor bedeuten? Was fühlten sie bei den Klängen der deutschen Nationalhymne? Selbst die Berliner Mauer war kein Symbol, sondern ein politisches Instrument des Kalten Krieges.
Wer in den siebziger und achtziger Jahren in Deutschland aufwuchs, deutsche Schulen besuchte, konnte getrost auf Symbole verzichten. Kein Fahnenappell, wie in der Türkei heute noch üblich, kein Nationalgefühl. Auch die türkischen Symbole wurden von jedem von uns anders wahrgenommen, ergaben längst kein Gruppengefühl. Die türkische Minderheit war auf dem langen Weg zur kosmopolitischen Gruppierung, und das in einem mitteleuropäischen Land, das sich der übernationalen Idee eines vereinten Europa verschrieben hatte — mit starken pazifistischen Tendenzen.
Was nur ist in der Zwischenzeit seit der Maueröffnung im November 1989 geschehen, daß ein Ex-Kanzler dieser offenen, liberalen, kosmopolitisch orientierten Bundesrepublik in der von ihm mitherausgegebenen ‘Zeit' die linksliberalen Intellektuellen bezichtigen konnte, voreilig die vom Volk weiterhin geteilten Nationalgefühle über Bord geworfen zu haben? ('Die Zeit‘ vom 3.Oktober 1991). Helmut Schmidts Urteil scheint ungerechtfertigt. Denn die meisten deutschen Intellektuellen, selbst die enfants terribles der 68er Generation, akzeptieren mittlerweile diese höchst diffuse Zusammengehörigkeitstheorie, die einen neuen wiedervereinten Nationalstaat Deutschland schaffen will und an den gegenwärtigen Realitäten eines multikulturellen Europas aber vorbeigeht.
Nach wie vor sehen die Deutschen — jedweder Gesinnung auch immer — in uns die Fremden. Selbst wenn man in ihrer Sprache schreibt, bleibt man ein Exot, ein Eindringling, teils bewundernd, teils mißtrauisch inspiziert. Ein Türke liest den Koran, geht aber nicht in die Oper. Selbst diejenigen „Ausländer“, die in Deutschland geboren sind, werden auf diese Weise niemals in diesem Land ankommen, werden ihr Leben lang Zwischenräume ausfüllen, von Beruf Lückenbüßer sein.
Sie tragen Reminiszenzen an die Heimat der Väter wie Samen in sich, den der hiesige Boden nicht annimmt. Selbst wenn sie hier Wurzeln schlagen und ihre Herkunft wie eine Pusteblume von sich blasen, müssen sie sich fragen, ob ihre Assimilation den Preis wert ist, um die Reise nach Deutschland beenden zu dürfen, um das Haus als das eigene bezeichnen zu können. Vielleicht auch handelt es sich bei der Reise nach Deutschland nicht um eine Reise in ein Land (denn geographisch gesehen halten die, die unterwegs sind, sich schon längst — wenn nicht schon von Geburt an — hier auf), sondern um einen Gemütszustand, einen seelischen Raum, der unerreichbar bleibt.
Noch haben die Türken in zweiter Generation keine Konzepte für ihr zukünftiges Dasein in Deutschland entwickelt. Nicht nur die deutsche Politik wartet ab, auch sie selbst zögern, sich selbst zu organisieren und zu institutionalisieren, durch Wort und Tat sich bemerkbar zu machen, herauszutreten aus der Menge der Gäste, Opfer und Gejagten. Ihr Denken und Handeln wird auch für die Kommenden Weichen stellen. Doch ist das Warten nicht absurd? Gäste und Ausländer sind immer Fremde. Wann und wie jedoch wird aus den Fremden eine Minderheit, die mit der Mehrheit zusammen ein Ganzes bildet?
Eine Minderheit hat gesicherte Rechte als Minderheit gegenüber der Mehrheit. Doch eine Minderheit hat auch eine Bringschuld gegenüber der Mehrheit. Sie schließt einen Vertrag — sozusagen einen zweiten contract social — mit der Mehrheit ab, in dem sie das Grundgesetz und die elementaren Verpflichtungen und allgemein menschlichen Werte der Mehrheit auch zu ihrem eigenen Schutz akzeptiert. Diese Art von Übereinkunft bedeutet noch keine Assimilation, denn die Minderheit kann Freiräume in der Gesellschaft beanspruchen, die es ihr ermöglichen, die eigene kulturelle Identität weiter zu wahren: das heißt vor allem Sprache, Religion, Mythologie und Symbole. Diese gehen in dem Kulturgut des Landes, in dem die Minderheit lebt, auf und bilden die Saat kultureller Vielfalt in der Gesellschaft.
Jede Minderheit muß einen bestimmten Grad an Eigenständigkeit auch gegenüber der Herkunftskultur erreichen, um existieren zu können. Hat sie diese Flexibilität nicht, exotisiert sie sich selbst und verschwindet in der Mottenkiste der Geschichte.
Umgekehrt läuft die Mehrheit Gefahr, die Kultur der Minderheit als Monolithen zu begreifen. Folkloristische Aspekte werden überbetont und immer dann wird die ethnologische Brille aufgesetzt, soll eine gewisse Distanz geschaffen und das Trennende unterstrichen werden. Aus diesem Blickwinkel besteht die Literatur des Orients bis in unsere Tage aus Märchen. Die Moderne ist den Europäern reserviert.
Die Beziehungen zwischen der Minderheit und der Mehrheit aber sind nicht statisch. Kulturelle Identität läßt sich niemals ghettoisieren. Die Verfechter von Ghettos sind entweder Demagogen oder Träumer. Jede Kultur entsteht und lebt in der Reibung mit anderen. Oft ist der gegenseitige Austausch der Beginn von gravierenden Veränderungen.
In einem Staat, der danach drängt, daß die nationale und kulturelle Identität seiner Bürger über den Blutsweg festlgelegt wird, können auf Dauer jedoch keine Minderheiten Wurzeln schlagen. Damit ist das türkische Dilemma in Deutschland beschrieben, das schon bald, wenn nicht schon heute, ein deutsches Dilemma in einem vereinten Europa sein wird. Denn ein Gemeinwesen, das keine Minderheiten in sich als ihr angehörig akzeptieren kann, kann sich nur schlecht in ein multinationales System einordnen, in dem es selbst wiederum nur eine Minderheit darstellen wird.
Allein deshalb müßte die Veränderung der deutschen Ausländerpolitik in eine Einwandererpolitik auch vom bürgerlichen Lager gefordert werden, wenn denn die europäische Einigung nach wie vor Priorität haben soll. Würde dagegen das in Deutschland geltende Recht europaweit zur Anwendung kommen, wäre dies wohl der Anfang vom Ende des vereinten Europas, da dieses Recht auf Abschottung und fiktive, vom Blut abgeleitete nationale Identität baut. Der Verfassungspatriotismus, von dem Heiner Geißler spricht, hat im vereinten Deutschland des Jahres 1991 keine Mehrheit. Das Innenministerium setzt auf schleichende Assimilation, breite Kreise der Bevölkerung auf Vertreibung. Wem nützt es da, wenn eine verschlissene Linke, grün oder rot, für eine multikulturelle Gesellschaft betet?
Deutschland ist heute weit davon entfernt, Religion, Sprache und den kulturellen Ausdruck seiner Minderheiten offiziell als gleichwertig anzuerkennen. Deutsche Bürger mit türkischem Namen und islamischem Glauben bedeuten aber, daß türkische und islamische Insignien in der deutschen Kultur verankert werden und daß neue Kreuzungen und neuartige Formen von Identität entstehen. Nicht nur christliche Wallfahrtsorte, sondern auch Mekka und Medina werden unter den Bürgern Deutschlands religiöse Gefühle erwecken. In der Kunst, die in europäischen Metropolen wie Berlin, London und Paris von Einwanderern geschaffen wird, in Literatur, Malerei, Film, vor allem in der Musik sind diese Tendenzen längst zu beobachten. Die Eingewanderten sind dabei, neue ästhetische Kategorien zu entwickeln, die die Wahrnehmungen des Fremden nachhaltig verändern können.
In Deutschland fehlt allerdings dieser längst zur Realität gewordenen Entwicklung der politische und rechtliche Boden. Deutschland akzeptiert seine Rolle als Einwanderungsland für bisher fünf Millionen Menschen aus allen Teilen der Welt nicht und betreibt weiterhin eine Politik der Abschottung, deren Ziel es ist, den Deutschen die Mühe abzunehmen, sich mit den Kulturen der Einwanderer ernsthaft auseinanderzusetzen: Zusammenleben ohne Berührung.
Eckart Schiffer, Leiter der Verfassungsabteilung im Innenministerium und Chefdenker in Sachen Ausländerpolitik, bringt es wie folgt auf den Nenner: „Diese anderen Lebensstile können als individueller Lebensausdruck in den Grenzen des Rechts Freiheit beanspruchen. Dies bedeutet aber nicht, daß kollektiv im Staatsgebiet die Gleichrangigkeit mit den kulturellen Wertsetzungen des Staatsvolkes beansprucht werden kann“ ('Der Spiegel‘ vom 30.September 1991). Komplementär dazu operieren die Regierenden mit latenden Überfremdungsängsten und archaischen Metaphern wie „das Boot ist voll“, die Emotionen auslösen und die Bereitschaft zur sachlichen Analyse der Lage mindern.
Es wäre die Aufgabe einer kritischen Intelligenz, allen voran der Schriftsteller, diese Metaphern und Sprechweisen zu entlarven und zu demontieren. Vor allem die „Raumfrage“ hat Tradition in Deutschland. Eine Feststellung wie „das Boot ist voll“ kippt assoziativ unweigerlich in die faschistische Parole vom „Volk ohne Raum“ um.
Was tun in dieser Situation? Koffer packen? In Depression und Selbstmitleid verfallen, in Haß, Gegengewalt? Wir müssen uns auf allen Ebenen die Frage stellen, sollten Spieler sein, keine Figuren. Wie können wir unsere Diskussionen von den Rändern in die Mitte tragen? Wir dürfen nicht länger die Hühneraugen der Gesellschaft sein, die man abschält. Welche Rolle spielen für uns die Namen, die wir tragen, die Kultur unserer Eltern, Religion und Sprache?
Unter den Türken wird nicht nur für die Frommen die Religion immer mehr zum letzten identitätsbildenden Faktor. Die Religion steht für die Differenz: zu einer einerseits weitgehend säkularisierten Gesellschaft, die sich aber andererseits in Abgrenzung zum Islam wieder ihrer christlichen Wurzeln vergewissert. Europäische Identität wird zunehmend am christlichen Glauben festgemacht. In einer solchen Atmosphäre fällt dem Dialog der Religionen, vor allem dem zwischen Christen und Muslimen, eine besondere Rolle zu. Kaum bereit für einen solchen Dialog sind, anders als die säkularisierten Christen die Muslime, deren Kodex für den vom Glauben Abtrünnigen immer noch den Tod vorsieht. Das Schicksal Salman Rushdies hat dies offengelegt.
Auf Dauer wird sich das muslimische Selbstverständnis vor allem in Europa verändern müssen. Der Islam ähnelt in der Gesetzesverbundenheit dem orthodoxen Judentum. Ähnlich wie die Juden der westlichen Welt werden die europäischen Muslime stärker als bisher den Weg zu einer Reform ihres Glaubens suchen und finden müssen. Die Diaspora bietet dabei nicht nur den Anhängern des Ghettos beste Bedingungen, sondern auch denen, die eine aktuelle, frische Sprache für ihren überlieferten Glauben suchen und an der Schwelle zum 21.Jahrhundert nicht wie im siebten leben wollen. Doch der Weg zum Fortschritt wird in Zukunft ohne Fortschrittsgläubigkeit beschritten werden müssen, vielmehr mit Pragmatismus und Behutsamkeit, um die Überlebensmöglichkeiten des Menschen in einer offenen Weltgesellschaft auszuloten.
Das europäische Denken über den Islam ist immer noch von der fast tausendjährigen Geschichte der Kreuzzüge getrübt. Das Wort „Türke“ erinnert an Türkenkriege. Das Wissen über den Islam und die islamische Welt ist rudimentär und wird von selbsternannten Experten in den Medien oft bewußt oder unbewußt verzerrt. Selbst die Erkenntnise der Wissenschaft über den Orient sind nicht frei von Vorurteilen, sondern weben mit am Stoff, aus dem der Orient als das gänzlich Andere erst geschaffen wird.
Unter diesen Voraussetzungen ist auch und vor allem in Europa unter den Christen ein neues Denken über den Islam erfoderlich. Welches Bild haben die christlichen Kirchen heute vom Islam? Gibt es überhaupt einen Konsens? War Mohammed ein sexbesessener Scharlatan, „düster, ja finster, glühend rachlustig und von Rache gesättigt“, wie er von Goethe in seinen Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan charakterisiert wird, ein Plagiator, der kräftig aus der Bibel abgeschrieben und die Wahrheiten der anderen Religionen „mit häßlichem arabischen Kamelunrat umpflanzet“ hat (Herder)? Ist der Islam lediglich eine ketzerische Sekte? Ein Zwitter zwischen Judentum und Christentum? Oder eine Weltreligion, entstanden nach einer göttlichen Offenbarung, ein Heilsweg auch aus christlicher Sicht?
Erst die Klärung dieser Fragen wird vielleicht das Kapitel der gegenseitigen Diffamierungen und des Blutvergießens vielleicht schließen. Europäische Politik, Kultur und Wissenschaft haben es verstanden, islamisches Erbe in Europa in Vergessenheit geraten zu lassen. Aufklärerische Ansätze und griechisches Erbe paßten nicht zum Bild vom ewig rückständigen und grausamen Orient und Orientalen. Das Orientbild des Europäers kennt keine Widersprüche. Der islamischen Kultur werden keine Ketzer, keine Dissidenten, keine Freidenker zugetraut. Als hätte es keinen Omar Chajjam, keinen Haladsch al Mansur, keinen Rumi, keinen Ibn Arabi, keinen Ibn Rushd gegeben! So, als stünde Salman Rushdie in keiner Tradition. Länger als ein Jahrtausend gewährleisteten islamische Kulturen unter vordemokratischen Bedingungen das friedliche Zusammenleben zwischen unterschiedlichsten Völkern und Religionen, so etwa in Spanien, auf dem Balkan und in Anatolien.
Sollte Deutschland, sollten die aufgeklärten, freiheitlichen und pluralistischen Demokratien Europas an der Schwelle zum 21.Jahrhundert wieder einmal an dieser Herausforderung scheitern?
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