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Der Herzschlag der Welt und EKG mit Bravour

■ Das World Saxophone Quartet & African Drums im Quasimodo in der Kantstraße

Wozu brauchen wir eine Rhythmusgruppe, wir haben doch unseren Herzschlag«, pflegten die Mitglieder des World Saxophone Quartet stets zu antworten, wenn sich jemand über ihren Bruch mit sämtlichen traditionellen Formen von Jazz Bands wunderten. Was sonst nur ein Teil des Ensembles war, wurde bei ihnen zum absoluten Zentrum. Die klassische Saxophonsektion der Big Bands trat heraus aus der Anonymität, entledigte sich ihrer Fesseln und spielte eine von allen Konventionen befreite pulsierende Musik, die wahrlich keiner Unterstützung anderer Instrumente bedurfte.

Inzwischen ist das World Saxophone Quartet, 1977 in New York gegründet, seiner alten Devise jedoch untreu geworden und hat sich drei Perkussionisten angelacht, die mit ihren knallbunten Gewändern und dem abenteuerlichen Kopfputz des frohgemuten Vortrommlers Mor Thiam aussehen, als hätte man sie direkt von der Tribüne der afrikanischen Fußballmeisterschaft in Dakar wegverpflichtet. Das würde auch erklären, warum es bei den Viertelfinalspielen dort so ruhig war. Mor Thiam und seine beiden nicht minder schlagkräftigen Kollegen Mor Gueye und Chief Bey liefern den vier Saxophonisten einen feingewobenen rhythmischen Teppich, eine solide Grundlage, von der aus sie zu ihren gewagten Improvisationen abheben können.

Arthur Blythe (51), der den Quartet-Gründer Julius Hemphill ersetzt hat, und Oliver Lake (49) sind mittlerweile fett wie die Rapper und bestätigen aufs trefflichste die alte Theorie, daß sich die Körperform eines Saxophonspielers im Laufe seines Lebens der seines Instrumentes angleicht. So gesehen, können die beiden froh sein, daß sie bloß Altsaxophon spielen und nicht das ausladende Bariton-Sax wie Hamiet Bluiett (51), der aber offensichtlich gegen besagtes Phänomen gefeit ist. Der vierte im Bunde, David Murray, zeigt zwar bereits alle Ansätze eines Saxophonbäuchleins, bis zur Körperfülle seiner Mitstreiter ist es aber noch ein weiter Weg. Das nimmt nicht Wunder, schließlich ist Murray mit seinen 35 Jahren das Nesthäkchen der Bande.

Gleichzeitig ist er der vitalste, und wenn er mit seinem völlig unzeitgemäßen schwarzen Black-Panther- Käppi die Baßklarinette traktiert, sprühen die Funken. Mal entlockt er ihr wunderschöne Läufe, die glatt von Benny Goodman stammen könnten, dann läßt er sie plötzlich unvermittelt losquieken wie eine Herde ausgehungerter Ferkel, um sie Sekunden später wie eine Trommel zu spielen und sich auf ein Percussion- Duell mit seinem Musiker-Kollegen Mor Thiam einzulassen.

Wenn alle vier gemeinsam das Thema eines Stückes intonieren, rücken sie manchmal zusammen wie Hühner, wenn's donnert, parodieren die synchronen Bewegungen der Big Band-Saxophonisten und driften dann wieder auseinander. Während der Rest wie eine Prozession von Elefanten gen Backstage trottet, bleibt einer zurück, schnappt sich das Thema und beginnt es nach allen Regeln der Bläserkunst zu malträtieren. Es wird umkreist, gedehnt, gebogen, gestaucht, scheinbar langsam aus den Augen verloren, und wenn es gerade glaubt, glücklich entfleucht zu sein, rüde beim Schlafittchen gepackt und erneut unbarmherzig in die Mangel genommen.

Hamiet Bluiett raunzt und röchelt mit seiner Baßklarinette, spielt mal Töne, die wie das Brummen eines aus dem Winterschlaf geschreckten Höhlenbären, dann wieder wie Tom Waits im Falsett klingen — auch wenn manchmal nicht ganz klar ist, ob die Laute künstlerischer Ausdruck seiner musikalischen Persönlichkeit sind oder Bluiett bloß aufgrund der Qualmkonzentration in der Charlottenburger Rauchwolke namens Quasimodo in sein Instrument gehustet hat. Dann prustet er plötzlich los wie ein Nebelhorn — wahrscheinlich, um den Leuten ganz hinten im Dunst schnell noch seinen Standort mitzuteilen — und verschwindet.

Die Elefanten kommen und gehen, und Oliver Lake und Arthur Blythe spielen eine wunderhübsche Bluesvariation. Dann geht auch der rastazopfige Lake, und der Saal gehört dem genialen Arthur Blythe, der sein Instrument beherrscht wie kaum ein anderer und mit einem langen Solo das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt. In einem einzigen Atemzug bringt er es fertig, von wuchtigen Tonkaskaden, die Felsen sprengen könnten, nahtlos überzugehen zu einem sanften Säuseln, das jeden Ozean glätten würde. Orpheus, der alte Unterweltler, wäre begeistert, und so war es auch das vollbesetzte Quasimodo.

»Das letzte Mal, als wir hier spielten, waren wir ziemlich schlecht drauf«, hatte Oliver Lake vorher gestanden. Diesmal hätte das World Saxophone Quartet jedes EKG mit Bravour absolviert. Der Herzschlag war tipptopp in Ordnung — egal, ob mit oder ohne Herzschrittmacher der »African Drums«. Matti Lieske

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