: Es geht ein Riß durch Rügen
Die einen wollen Meyer, die anderen eine heile Insel. Vor der Steilküste des Prorer Wieks will der Papenburger Schiffsbauer Meyer eine Riesenwerft auf einer künstlichen Insel errichten. Seine Pläne bringen Arbeitslose und Umweltschützer gegeneinander auf. ■ VON BETTINA MARKMEYER
Wo Gerhard Mühle wohnt, da gibt es nichts als Wind, Wasser und Weite. Noch. Denn genau vor Mühles einsamem Anwesen in Mukran, direkt über der Steilküste Ost-Rügens, zwischen Saßnitz und Binz, soll auf einer künstlich aufgespülten Insel eine gigantische Halle des Papenburger Schiffbauunternehmens Bernhard Meyer aus der Ostsee wachsen: ein Riesenwürfel, höher noch als die Steilküste, fast einen halben Kilometer breit und länger als drei Fußballfelder.
Mühle braucht sich nur neben seine Gartenhecke „an die Kante“ zu stellen, wo die Küste 25 Meter tief steil ins Meer stürzt, um einen herrlichen Blick über das weite Prorer Wiek zu haben, die große Bucht der Ost-Rügenschen Küste. Linker Hand schieben sich Hotels und die hellen Gebäude der Saßnitzer Fischfabrik vor die am Horizont aufsteigende Silhouette der Jasmunder Steilküste mit den berühmten Kreidefelsen. Rechter Hand zeichnen sich zwischen Kiefern die Kasernenklötze von Prora ab, ehemals Sperrgebiet der Nationalen Volksarmee (NVA). Etwas weiter schimmert Binz mit dem Kurhaus und seinen noch im Dornröschenschlaf liegenden Gründerzeit-Pensionen. In Binz sammeln sich die GegnerInnen der Meyer-Werft. Die BefürworterInnen haben ihr Hauptquartier in Saßnitz.
„Ja zur Meyer-Werft!“ schreit die eine Bürgerinitiative und sammelt Unterschriften. „Nein!“ schreit die andere, oder geschickter: „Für Rügen!“ und sammelt ebenfalls Unterschriften. Die CDU-Mehrheit im Kreistag der wirtschaftlich darniederliegenden Insel ist für die Werft, unterstützt das Industrie- und Gewerbestädtchen Saßnitz gegen das Seebad Binz und glaubt, die schweigende Mehrheit der RüganerInnen hinter sich zu haben. Doch zeigte erst kürzlich eine Abstimmung im Kreistag, daß die Meyer-Fans es nicht drauf ankommen lassen wollen: Mehrheitlich wandten sich die CDU- Abgeordneten dagegen, alle InsulanerInnen im großen Werft-Streit abstimmen zu lassen, wie es die oppositionelle SPD beantragt hatte.
Vor Ort, in seinem Garten in Mukran, wirtschaftet Gerhard Mühle, ein drahtiger alter Mann in weißer Arbeitsjacke und Cordhosen, einstweilen wie immer. Vom ständigen scharfen Wind tränen ihm die Augen. Wohin er gehen wird, wenn Meyer kommt, weiß er nicht. Die Woche über wohnt er allein in seinem reetgedeckten Häuschen, neben dem sich die Datschen für Kinder und Enkel zwischen sturmerprobte Birken drücken. Die Familie trifft sich an den Wochenenden. „Das ist dann auch vorbei“, sagt Mühle, wischt sich die Augen und setzt seine Brille wieder auf. „Die Ruhe, die gute Luft, das Meer — alles weg.“
Geht es für Gerhard Mühle um Haus, Hof und Heimat, so geht es für Marlies Preller vom Naturschutzbund und Joachim Kleinke vom Rügen-Förderverein „Insula Rugia“ um das Schicksal der ganzen Insel; einer Insel „von einer Pracht“, wie der um Worte nie verlegene Bundespräsident von Weizsäcker bei seinem Besuch im vergangenen Sommer schwärmte, „die in ganz Deutschland nicht ihresgleichen findet“. Die vielfältige Landschaft und die Gewässer von Rügen haben, wie nur noch ganz wenige Gebiete in Europa, einer reichen Tier- und Pflanzenwelt unschätzbare Refugien bewahrt. „Es ist einfach bekloppt“, schimpft der Ornithologe und Naturschützer Kleinke, „diese letzten Ruheräume in Deutschland kaputtzumachen und auf Rügen dieselbe Norm zu verwirklichen wie überall im Lande!“
Daß schon heute mit dem Eiland, dem vom bekanntesten Insel-Sohn Ernst Moritz Arndt besungenen „Land der dunklen Haine“ und „Glanz der blauen See“, nicht zimperlich umgegangen wird, beweisen grell in die Landschaft schneidende Tankstellen und Werbetafeln, Autohäuser, wilde Müllkippen und ein erheblicher Verkehr, der im Sommer vollends kollabiert und die Alleebäume in Abgasen erstickt. Hinzu kommen sozialistische Errungenschaften wie jene Neubaugebiete für einst über 8.000 auf der Insel beschäftigte NVA-Angehörige oder LPG-Beton-Baracken, die noch kleinste Dörfchen zu grotesken Barackenlagern entstellen. Und dann wäre da noch der Mukraner Fährhafen samt riesiger Gleis-Umspuranlagen, gebaut in panischer Reaktion auf die polnische Demokratiebewegung zu Solidarność-Zeiten, um die Verbindung der DDR zum großen sowjetischen Bruder zu sichern. Ein Verbrechen an der Rügenschen Natur, das jetzt als Argument für die Werft-Ansiedlung herhalten muß. Motto: Hier ist Rügen schon kaputt, machen wir also weiter.
Die Meyer-Werft auf einer künstlichen, 60 Hektar großen Insel in der Ostsee sei ein gravierender Schritt in die falsche Richtung, meint die auf Rügen geborene Marlies Preller, sie ziehe Zulieferindustrie und noch mehr Verkehr nach. „Am Ende werden wir für die LKWs unsere Alleen auslichten müssen“, orakelt die jetzt arbeitslose Lehrerin. Rügens Oppositionelle wollen dagegen ein sanftes Entwicklungskonzept, das weder große Industrieansiedlungen noch Hoteltürme zuläßt, die Siedlungszentren auf der in weiten Teilen unter Natur- und Landschaftsschutz gestellten Insel konzentriert, angepaßtes Gewerbe fördert und ökologisch orientierte Pilotprojekte anstößt.
Ein Strukturkonzept, das zumindest einigen dieser Kriterien verpflichtet ist, hat auch der Rügener Kreistag verabschiedet. Doch als Bernhard Meyer am Inselhorizont auftauchte, faßte das Parlament „völlig kopflos“ (Kleinke) den Beschluß: „Wir wollen Meyer!“ Wie sehr Meyers Pläne die Rüganer polarisiert haben, zeigt sich auch in Marlies Prellers Familie: Die Schwester der Naturschützerin arbeitet im Koordinationsbüro der Firma Meyer in Saßnitz.
Der Schiffebauer Bernhard Meyer, der im niedersächsischen Papenburg 1.800 Leute beschäftigt, hat auch bei der Landesregierung in Schwerin leichtes Spiel, denn er bringt Arbeitsplätze, viele Arbeitsplätze. Der niedersächsische Unternehmer selbst hat vor allem drei Gründe für die 350-Millionen-Investition auf der größten deutschen Insel: die natürliche Wassertiefe vor Mukran, den Verkehrsanschluß durch den dortigen Fährhafen und die Fördertöpfe für Investitionen in Ostdeutschland. Ein knappes Drittel der Investitionssumme bekäme Meyer aus Bundes- und Landesmitteln.
In Papenburg ist die Meyer-Werft in Not. Ihre Riesenschiffe passen nicht mehr durch die Ems. Nur einmal noch will die niedersächsische Landesregierung den Fluß vertiefen lassen. Doch Bernhard Meyer, führend beim Bau von spezialisierten Frachtschiffen und Luxuslinern, will vor Rügen in „der modernsten Werft Europas“ noch größere Schiffe bauen. Es sei immer klar gewesen, erklärt der Firmensprecher, daß man sich im Osten nicht an den Altlasten abarbeiten, sondern „nur mit einem Werftneubau engagieren“ könne.
Rostock habe „keine geeigneten Flächen“ geboten, Meyer wollte auch nicht „in einer Stadt, in der damals noch zwei Werften existierten, als Werftenschlächter dastehen“. Die inzwischen zusammengelegte „Neptun“ — und die „Warnow“- Werft in Rostock sollen jetzt vermutlich von der Bremer „Vulkan“- Werft übernommen werden. Das von Meyer vielstrapazierte Argument unzureichender Wassertiefe läßt sich bei genauem Hinsehen jedoch nicht halten. In Rostock könnte die für die Meyer-Schiffe nötige Tiefe ausgebaggert werden, eine entsprechende Zusage seitens der Stadt existiert.
Daß gleichwohl die Landesregierung in Schwerin die Meyer-Pläne auf Rügen rückhaltlos befürwortet und keine Versuche unternommen hat, die Großinvestition durch entsprechende Angebote nach Rostock umzulenken, bringt Naturschützer wie Joachim Kleinke auf die Palme und läßt Rügen-LiebhaberInnen in der ganzen Republik den Kopf schütteln. Kleinke hat auf seiner Rügen- Karte maßstabsgetreu und in pessimistischem Schwarz die Meyer- Werft-Halle vor Mukran eingezeichnet: ein Monstrum, das eine Umbenennung des Prorer Wieks in „Meyer Wiek“ rechtfertigen würde. Noch vom Badestrand in Binz, das zeigen Kleinkes Bleistiftstriche, würde die Werft die Aussicht auf die Jasmunder Küste versperren. Und selbst vom Inselinneren aus bräche sich der natur- und weitehungrige Blick an den scharfen Kanten der die Steilküste hoch überragenden Werfthalle. Das Landschaftsbild der Rügenschen Ostküste, das müssen selbst Meyer-Befürworter wie der Schweriner Wirtschaftsminister Conrad-Michael Lehment zugestehen, wäre zerstört.
Zu zerstören drohen die Werft- Pläne aber auch die Hoffnung auf Besserung, die NaturschützerInnen wie Kleinke und Preller, aber auch der Rügener Pfarrer und heutige CDU-Landtagsabgeordnete Frieder Jelen hegen, die sich bereits zu DDR- Zeiten mit der „SED-Sauwirtschaft“ (Kleinke) auf Kosten der Natur herumgeschlagen haben. So gut wie unmöglich erschien es Marlies Preller zunächst, das Knäuel von Verfahren zu entwirren, die sämtlich parallel liefen, um möglichst schnell die Genehmigungsgrundlagen für die Meyer-Werft zu schaffen. Gerade noch rechtzeitig gelang es den UmweltschützerInnen, eine Hauruck-Bürokratie zu bremsen, wie sie nur in den neuen Ländern denkbar ist. Die Verfahren werden nun nachgebessert. „Ohne unsere Einwendungen“, resümiert Preller, „hätte Meyer wie geplant im Dezember letzten Jahres anfangen können zu bauen.“
Norbert Müller, Wirtschaftsförderer im Saßnitzer Rathaus, versteht die UmweltschützerInnen nicht. In seinen Horrorvisionen verkommt Rügen zu einer Insel von Alten und Arbeitslosen, zu denen sich zur Sommerzeit eine überschaubare Anzahl von erholungssuchenden Öko-Spinnern gesellt. Bernhard Meyer will auf Rügen 1.200 Menschen beschäftigen. Mehrere hundert Stellen brächte darüber hinaus die Zulieferindustrie, die sich an Land, gegenüber der Werft ansiedeln würde: „Da kommt Geld auf die Insel, und wir bekämen endlich eine bessere Infrastruktur“. Der studierte Schiffsmaschinenbauer mit über zwanzigjähriger Werfterfahrung ist von seinem gutbezahlten Nach-Wende-Arbeitsplatz in Bremen nach Saßnitz zurückgekehrt, um das Meyer-Projekt durchzuboxen.
Die Fisch- und die Kreideindustrie sind zusammengebrochen. Das aufregendste Ereignis im Hafen von Saßnitz ist derzeit der allabendliche Sonnenuntergang. Auf dem Kutter „Nordwind“ erörtern drei Fischer mürrisch ihre Zukunftsaussichten. Nur die küstennahe Fischerei läuft noch einigermaßen. Der ehemalige VEB Rügenfisch sieht mit stark dezimiertem Personal seiner Übernahme durch eine Fleischfabrik aus Berlin entgegen. Junge Familien wandern ab; die registrierte Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, die reale vielleicht schon bei 50 Prozent. Norbert Müller, der den Schiffbau mindestens ebenso liebt wie seine Heimatinsel, hofft, daß Meyer-Werft und Tourismus sich vereinbaren lassen. Das Prorer Wiek sei schließlich nicht die schönste Bucht von Rügen, meint er trotzig. Müller glaubt sogar, Werftbesichtigungen zu einer touristischen Attraktion machen zu können.
Dafür hat man im Seebad Binz, auf der anderen Seite des Prorer Wieks, nur ein müdes Lächeln übrig. Rat und Bürgermeisterin haben sich einhellig gegen Meyer ausgesprochen — allerdings, so die kämpferische Renate Ott vom Fremdenverkehrsverein, „erst auf Druck der Bürgerinitiative“. Interessenten für Hotelneubauten an der Binzer Küste hätten für den Fall, daß die Meyer- Werft gebaut werde, bereits abgewinkt, ist aus der Gemeindeverwaltung zu hören. „Generell“, meint Renate Ott, „müßten die Arbeitsplätze in der Werft gegen jene aufgerechnet werden, die hier im Tourismus dann gar nicht erst entstehen.“ Gleichwohl ist die Saßnitzer Not auch den BinzerInnen nicht fremd. Mindestens 250 Männer wollen den touristischen Aufschwung des Badeorts nicht abwarten und haben sich schon heute bei Meyer beworben.
Daß die Entscheidung für oder gegen Meyer auf Rügen wie geplant in den ersten drei Monaten dieses Jahres fallen soll, bestätigt man im Schweriner Wirtschaftsministerium mittlerweile nicht mehr. Aus dem Umweltministerium, dessen Engagement für den Rügener Naturschutz bisher darin bestand, die aufmüpfigen Umweltverbände zu kritisieren und den eigenen Bediensteten in Sachen Meyer-Werft einen Maulkorb zu verpassen, ist gar nichts zu hören. Man müsse den Ausgang der Verfahren abwarten. In diesen Tagen informiert sich eine Landtagsdelegation vor Ort.
Auch für die Meyer-GegnerInnen auf Rügen steht außer Frage, daß die Papenburger Werft ein zukunftsträchtiges Unternehmen ist und ihre Ansiedlung ein Segen wäre für das strukturschwache Mecklenburg- Vorpommern. Aber eine neue Riesenwerft gehöre an einen Schiffbaustandort wie Rostock. Rügens größtes Kapital sei seine weitgehend intakte Natur. „Der deutsche Industriemensch“, meint Kleinke als vehementer Kämpfer gegen eine rein ökonomische Zweckwelt, „sucht hier die heile Welt.“ „Überall heißt es jetzt, ohne Meyer geht Rügen unter“, fragt Marlies Preller. „Ja, und was wäre denn, wenn Meyer gar nicht gekommen wäre?“
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