: Klinkersteine bilden Muster
■ Eine spannende Lesung im Café Yeni Mavi in Schöneberg
Literaturkreise haben gegen einige Vorurteile zu kämpfen. Sie sind exclusiv, heißt es, dort hocken angestaubte Hobbykünstler, introvertierte Einzelgänger, die sich gegenseitig angähnen. Wer sich von der Lebendigkeit eines Autorentreffs überzeugen will, muß nach Schöneberg fahren.
»Das Neue Blau« ist eine offene Künstlergruppe vorwiegend junger Autoren, die sich jeden Dienstag ab 20 Uhr im Café Yeni Mavi trifft.
Es sind auch ausdrücklich »Nur- Zuhörer« willkommen, Freunde der Literatur, die einen angenehmen Abend verbringen wollen. Das Neue Blau ist ein Ableger der »Literaturoffensive Neukölln«, die Ende der achtziger Jahre ihren Stammsitz in der Galerie »Das Dasein an sich« aufgeben mußte — das Haus in der Mainzer Straße wurde luxussaniert, die Miete unbezahlbar.
Klaus Thomas eröffnet die Lesung. Sein Text handelt von der Sehnsucht des einzelnen nach Geborgenheit, nach Nähe, Zärtlichkeit, nach der Definition des Ichs durch den anderen. Es wird der rührende Versuch eines Mannes beschrieben, der Anonymität einer Großstadt zu entfliehen.
Astrid Düerkop führt uns mit dem Text Fehlefanz in ein kleines Dorf an die Ostsee. Behutsam, und doch sehr energisch zeigt sie den Verfall, die Trostlosigkeit eines Ortes, der auf den ersten Blick in seiner Verlassenheit auf den Städter romantisch wirkt.
»Die Pappeln sind bereits gestutzt und vor den Häusern haben Besen schon oft gekehrt, noch sind die Rillen der Forkenstriche nicht verweht. Der Anger hängt schief unter der Eiche, aus ihr springen Augenringe alter Wunden, darunter die Tische, krumm, mit hölzernen Stühlen, liebevoll streiche ich über die Platten, ich fühle mich einsam und doch sehen Augen aus den Fenstern ringsherum. Klinkersteine bilden Muster, ocker-rote Rauten, darunter schimmert der Putz, ein graubrauner Talg klebt auf den Fassaden, dort ein Hahn, ein blauer aus Metall, da eine Glaswand in blau-grünen Versatzkacheln und am schiefen Tor der Kirche eine eingelassene Bibel aus Bronze...«
Die Schweizerin Ursula Fricker beobachtet ihren Helden Max kühl, distanziert. Eine Küche wird zum Laboratorium, Max bewegt sich rastlos in dem kleinen Raum, den die Autorin abgesteckt hat. Max ist ein Arzt, der seinen Beruf nicht ausüben will, eine undurchsichtige, verschwiegene Person. Er backt einen Zitronenkuchen, denkt an eine Mieterhöhung, an Gott und die Nachbarin, er wuselt ziellos herum, es ist die hoffnungslose Suche nach einem Ausweg, einem Lebenssinn, den Max nicht zu erkennen vermag.
Obwohl Max bemüht ist, sein Leben zu genießen, scheitert er. Er ist kreativ, malt, sucht und findet Freundschaften, und doch fühlt er seine Existenz bedroht, ohne die Bedrohung definieren zu können.
Lapin, ein junger Autor, der Mineralogie studiert, liest eine Textprobe aus CYBERSPACE, eine Vision aus der morbiden Welt ohne Zerfall. »Dabei reicht mein Speicherplatz nicht einmal, eines dieser faltigen Gewächse zu simulieren, das unter meiner Fensterbank seine bleichen Hälse nach Licht reckt. Lange, gewundene Triebe, leicht pelzig bei Berührung, strecken sich jedem Photon entgegen, das durch ein Belüftungsloch von draußen herein dringt...«
Das Neue Blau wird von Peter geleitet, der es versteht, auch harte Kritik so zu formulieren, daß sie von den Autoren angenommen werden kann. »Eines sind wir hier nicht — ein Psychokurs«, sagt er, und das bestätigte die Gruppe bei den Diskussionen. Ein Abend mit Das Neue Blau ist angenehm, spannend und unterhaltsam, dazu noch umsonst und drinnen. Werner
Das Neue Blau, jeden Dienstag, 20 Uhr im Café Yeni Mavi, Eisenacher Straße 67, Schöneberg, 7845918
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