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Dem mutigen Aufbruch folgte der Kleinmut

■ Der Schöneberger Bezirksbürgermeister Michael Barthel (SPD), Befürworter der Großen Koalition, zieht nach einem Jahr eine kritische Bilanz/ Statt zu handeln, organisierten Parteikreise und Verwaltungsstuben akribisch ihren Widerstand

Schöneberg. Große Koalitionen sind — nach landläufiger Meinung — immer dann vonnöten, wenn besondere politische Problemlagen oder umfassende Reformvorhaben zu bewältigen sind. Und so war es naheliegend — nachdem auch die Wahlarithmetik wenige Alternativen erlaubte — im Dezember 1990 für Berlin eine große Koalition ins Auge zu fassen. Ein, zumal in der SPD, nicht unumstrittenes Vorhaben.

Da ich damals zu den Befürwortern und Verteidigern der Entscheidung für eine solche große Koalition gehörte, und mich damit übrigens innerhalb der Schöneberger SPD in unpopulärer Minderheitsposition befand, stelle ich mir nach einem Jahr natürlich die Frage, ob diese große Koalition die Erwartungen erfüllt, ob sie die notwendige Arbeit für Berlin geleistet hat.

Die Probleme und Aufgaben waren in der Tat sehr umfangreich:

—das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften administrativ, infrastrukturell und sozial zu gestalten und zu befördern,

—für die schnell wachsende Metropole einen zukunftsorientierten städtebaulichen Rahmen zu setzen,

—den ökonomischen Umbruch sozial verträglich zu gestalten,

—eine moderne Wirtschaftsstruktur aufzubauen,

—den rapiden Abbau von Berlinförderung und -hilfe zu verkraften und

—Berlin auf seine Rolle als Parlaments- und Regierungssitz und als Austragungsort für die Olympischen Spiele im Jahr 2000 vorzubereiten.

Es wäre unbillig und auch ungerecht, nach einem Jahr die Lösung all dieser Probleme anzumahnen, zumal die staatlichen Handlungsmöglichkeiten in einen Teil dieser Problemkomplexe beschränkt sind. Legitim ist jedoch die Frage, wieweit der Senat und die ihn stützenden Koalitionsfraktionen nach einem Jahr gekommen sind, zum Beispiel:

—mit einem Verkehrskonzept, das die immens gestiegenen Verkehrsströme bewältigt, sie stadt- und umweltverträglich kanalisiert; ein Verkehrskonzept, das Individualverkehr und öffentlichen Personalverkehr intelligent verknüpft und die Stellplatzprobleme der Anwohner im Innenstadtbereich löst. Nicht einmal Ansätze sind erkennbar, statt dessen verhakelt sich der zuständige Senator in bürokratischen Kleinkriegen mit den Bezirken, nach Beifall der Autofahrerlobby schielend.

—mit städtebaulichen Rahmensetzungen für den Wohnungsbau, insbesondere aber für die Ansiedlung moderner Dienstleistungsunternehmen. Auch hier sind Ergebnisse nicht erkennbar, und auch das als Entscheidungshilfe gedachte »Stadtforum« begnügt sich zunehmend mit seminaristischen Fingerübungen. Investoren ziehen unterdessen mehr und mehr an Berlin vorbei.

Und wie steht es mit den Aufgaben, die zu lösen ureigene und alleinige Aufgabe von Senat und Abgeordnetenhaus sind?

—Mit der Konsolidierung des Landeshaushaltes etwa, der durch den Rückgang der Berlinhilfe und durch zusätzliche Aufgaben im Ostteil der Stadt durch dramatische Neuverschuldungen belastet wird. Von den für 1992 geplanten Streichungen von 10.000 Stellen im Land Berlin (30.000 bis 40.000 dürften es mittelfristig werden) sind gerade 2.800 erreicht und dies überwiegend in den Bezirken. Währenddessen graben sich die personell überdimensionierten Senatsverwaltungen in aller Ruhe ein, um auch in kommenden Runden ungeschoren davonzukommen.

Oder

—mit einer umfassenden Verwaltungsreform, die klarere Aufgabenverteilungen zwischen Haupt- und Bezirksverwaltung, eine Entbürokratisierung und Effektivierung und eine neue Verwaltungsgliederung für Berlin bringen sollte, um die immensen Personal- und Sachausgaben zu mindern, aber vor allem auch, um bürgernahe Dienstleistungen effektiver zu organisieren. Nichts ist bisher geschehen, und es sind auch keine wirkungsvollen Reformansätze zu erkennen. Statt dessen wird in Parteikreisen und Verwaltungsstuben der Widerstand akribisch organisiert. Einem mutigen Aufbruch ist längst Kleinmut und gegenseitige Blockade beider Koalitionspartner gefolgt. Statt tatkräftigem Handeln kennzeichnet Stagnation und Resignation das Wirken der großen Koalition. Statt politisch koordiniertem Handeln agieren Senatsverwaltungen gegeneinander und aneinander vorbei.

Noch ist es nicht die Zeit für ein abschließendes Urteil über diese große Koalition in Berlin — zur Zeit könnte es eigentlich nur Bruch dieser Koalition heißen —, aber es ist fünf vor zwölf. Michael Barthel

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