: Auf reiche Onkel in Deutschland angewiesen
■ Im russischen Puschkin, der Partnerstadt Neuköllns, landete in diesem Winter die erste Antonow 12 mit über zwölf Tonnen Lebensmittelspenden/ Die Bevölkerung zeigte sich überwiegend dankbar und gerührt/ Mancher Neuköllner Verwaltungsmann kam sich jedoch wie ein Eindringling vor
Puschkin. Mit einer federleichten Landung setzte die sowjetische Militärmaschine Antonow 12, Baujahr 1965, auf dem Flughafen Pulkowo bei Sankt Petersburg auf. Im Laderaum türmten sich zwölf Tonnen Lebensmittelspenden von Berliner Bürgern in Form von über 1.000 Paketen und einige Kartons mit Medikamenten für bedürftige Menschen der 105.000 Einwohner zählenden russischen Stadt Puschkin, 25 Kilometer südlich von St. Petersburg. Mit den Militärpiloten geflogen waren der Neuköllner Pressesprecher Eike Warweg und die Dolmetscherin Alena Wermich-Okenka.
Die Entsendung des Lebensmitteltransports war die schnelle Antwort des Neuköllner Bezirksamts auf den Hilferuf aus Puschkin, das durch eine Städtepartnerschaft mit Neukölln verbunden ist. In seinem dramatischen Appell (die taz berichtete) hatte der Puschkiner Bürgermeister Juri Nikiforow um Nahrung und Arzneimittel für die notleidende Bevölkerung sowie um Futtermittel für Tausende von Rindern und Schweinen in den landwirtschaftlichen Großbetrieben gebeten. Andernfalls müßten die Tiere notgeschlachtet werden, was verheerende Konsequenzen für die weitere Versorgung der Stadt habe. Er selbst, so Nikiforow, garantiere persönlich dafür, daß die Hilfsgüter auch wirklich an ihren Bestimmungsort kämen.
Kaum daß die Ladeklappe der Antonow 12 geöffnet war, rollte ein Jeep mit einem Kommandanten der russischen Armee heran, der barsch befahl, daß die Maschine von seinen Soldaten entladen werden solle. Doch der Offizier hatte die Rechnung ohne Eike Warweg gemacht, einem Mann, der mehrere Zentner auf die Waage bringt und als Leiter der Puschkin-Hilfsaktionen schon mehrmals in Rußland war. Nach kurzer Verhandlung setzte er durch, daß erst ausgeladen wurde, nachdem der an der Schranke des Miltärflughafens wartende Juri Nikiforow mit seinen Leuten zur Maschine vorgelassen worden war.
Wandernde Gesellen mit im Flugzeug
Die Hilfsgüter wurden sodann in Miltärlaster geladen, von Bürgermeister Nikiforow nach Puschkin begleitet und dort die Nacht über in einem bewachten Gebäude zwischengelagert. Zu gleicher Zeit setzte auf dem internationalen Flughafen von Petersburg ein Flugzeug der Areoflot aus Berlin auf. Unter den Passagieren befanden sich drei Mitarbeiter des Neuköllner Bezirksamts, vier auffällig gekleidete Angehörige der wandernden Gesellen in schwarzer und grauer Handwerker- Cordtracht und Zylinder, die die Verteilaktion in Puschkin kontrollieren sollten, sowie ein großer Pulk Journalisten.
Puschkin war während des Zweiten Weltkriegs zweieinhalb Jahre lang von den Deutschen besetzt. Mit 18.388 Getöteten und 17.968 Verschleppten fiel jeder dritte Einwohner den Deutschen zum Opfer. Das 25 Kilometer entfernte Petersburg — das damalige Leningrad — wurde 900 Tage von der Wehrmacht belagert. Bei der Hungerblockade kamen 641.803 Menschen ums Leben, bevor die Deutschen zurückgeschlagen werden konnten.
Als Puschkin am 27. Januar 1944 befreit wurde, war die Stadt ein Trümmerhaufen. Die prunkvollen Paläste — die russischen Zaren hatten hier ihre Sommerresidenz — waren ebenso wie die Wohnhäuser nahezu vollkommen zerstört. Die Wohnungen wurden in der Nachkriegszeit neu erbaut und auch die Paläste zu über fünfzig Prozent im alten Stil rekonstruiert. Das Bernsteinzimmer, das die Nazis aus dem Katharinen-Palais in Puschkin raubten, ist nach wie vor verschwunden.
Die Stadt, die von großen Parkanlagen durchzogen ist und in die nach der Revolution Kinder zur Erholung geschickt wurden, verfügt über nur wenig Industrie: zwei Reparaturfabriken für Militär und Zivilflugzeuge. Die Menschen leben hauptsächlich von den fünf großen landwirtschaftlichen Betrieben, sogenannten Sowkosen — große Monokulturen, unter anderem für Kohl und Kartoffeln, Rinder- und Schweinezucht —, sowie Torfstechanlagen mit Tausenden von Arbeitsplätzen. Außerdem gibt es vierzehn wissenschaftliche Forschungsinstitute mit dem Schwerpunkt Landwirtschaft.
Temperatur von minus zwei Grad
In Puschkin, wo in diesem Jahr mit durchschnittlichen Tagestemperaturen von minus zwei Grad und wenig Schnee ein ausgesprochen milder Winter herrscht, ist trotz der miesen wirtschaftlichen Lage noch niemand verhungert. »Wir sterben nicht, die Menschen haben zu Hause etliche Lebensmittel gehortet«, beschreibt der Präsident des Stadtparlaments, Anatoli Somsonow, die Situation. »In den Geschäften gibt es Waren, die aber, gemessen am Einkommen der Leute, sehr teuer sind.« Natürlich sei man für die humanitäre Hilfe sehr dankbar, aber »viel dringender brauchen wir wirtschaftliche Hilfe und entsprechendes Know-how«, betonte Somsonow.
Eine Krankenschwester und eine Melkerin verdienen im Monat rund 400 Rubel, die niedrigste Rente der Alten und Invaliden beläuft sich auf 350 Rubel, umgerechnet sind das etwas mehr als zwei Kilo Schweinefleisch, das in halbprivaten Geschäften für 150 Rubel über den Ladentisch geht. Der offizielle Umtauschkurs in Rußland liegt zur Zeit bei 72 Rubel für eine Mark. In den staatlichen Läden sind die Grundnahrungsmittel wie Brot (1,5 bis 3 Rubel pro Laib), Milch, Butter, Zucker, Fleisch zwar zu etwas niedrigeren Preisen gegen Vorlage eines Lebensmittelcoupons zu erhalten. Aber dementsprechend schnell sind die Produkte, vor allem Fleisch, Milch und Zucker, auch vergriffen. Wer berufstätig ist und keine Großmutter hat, die von morgens bis abends für die ganze Familie Schlange steht, ist auf die privaten oder halbprivaten Läden angewiesen. Das Angebot ist hier für russische Verhältnisse vergleichsweise gut, aber unbezahlbar. Das Kilo Butter kostet 150 Rubel, vor der Preisfreigabe waren es noch 3,6 Rubel, Kartoffeln pro Kilo 12 Rubel (früher 5 Kopeken).
An neue Kleidungsstücke ist in Puschkin kaum zu denken. Der Preis für ein paar Männerstiefel liegt bei 750 Rubel, ein schickes Paar Damenschuhe aus der CSFR war in einem Laden mit 1.450 Rubel ausgepriesen. Wie sich die Mieten entwickeln werden, ist noch nicht absehbar. Bis zur Freigabe der Preise kostete eine Zweizimmerwohnung mit Heizung, Strom, Wasser und Telefon 18 bis 20 Rubel. Den Gedanken, mit dem Flugzeug einmal nach Berlin zu fliegen, können sich die Puschkiner bei einem Preis von 28.000 Rubel für das Hin- und Rückflugticket wohl abschminken. Bei der Frage der taz, wie hoch das durchschnittliche Einkommen der Puschkiner sei — auch über 90 Prozent der Frauen gehen arbeiten —, entbrannte zwischen dem Präsidenten Somsonow und seinem Mitarbeiter Wladimir Adikaew eine heftige Diskussion, was die chaotische wirtschaftliche Situation in Rußland wohl am besten charakterisiert. Die beiden einigten sich schließlich auf 900 bis 1.000 Rubel. Ein russischer Radiosender sprach unlängst davon, daß eine Frau im Monat 2.020 und ein Mann 2.000 Rubel braucht, um ohne Luxus über die Runden zu kommen.
Am schlimmsten trifft die Aufhebung der Preise kranke, alleinstehende Menschen sowie kinderreiche Familien und alleinerziehende Mütter. Die Zahl wurde von Bürgermeister Nikiforow auf 30.000 Menschen in Puschkin geschätzt. So gesehen ist die Hilfsaktion der Neuköllner Partnerstadt nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die 1.000 Pakete, von denen 300 bereits namentlich adressiert waren, wurden am Tag nach der Ankunft der Antonow 12 von fünf über die Stadt verteilten sogenannten Mikrobezirkssozialeinrichtungen, von ehrenamtlichen Puschkiner Helfern, an Rentner und kinderreiche Familien ausgegeben. Bei der Verteilung gingen die Helfer weisungsgemäß strikt nach einer Liste vor, auf der die Bedürftigen mit Adresse und Telefon verzeichnet waren. Wer laufen und tragen konnte, wurde angerufen, um das Paket selbst abzuholen. Ausgehändigt wurde es jedoch erst, wenn der Ausweis vorgezeigt und der Name auf der Liste abgehakt war. Die übrigen Menschen wurden zu Hause beliefert. Unterdessen rumpelten der Neuköllner Pressesprecher Warweg, seine Mitarbeiter vom Bezirksamt, die wandernden Gesellen und der Journalisten-Pulk in einem eigens vom Stadtparlament samt Fahrer zur Verfügung gestellten Bus von Verteilstelle zu Verteilstelle durch die Stadt, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß die Pakete auch wirklich »ordnungsgemäß« bei den Menschen landeten.
Bisweilen arteten die Kontrollen zu einer regelrechten Belagerung aus, was aber vor allem den Journalisten mit ihren Mikrophonen, Kameras und Blitzlichtern geschuldet war. Die meisten Paketabholer ließen die Befragungen nach Alter und Lebenssituation bescheiden über sich ergehen, flüsterten Dankesworte und zeigten sich regelrecht gerührt über die Hilfsaktion. Aber es gab auch krassere Szenen. Eine Frau, die den Journalisten in die Arme lief, als sie gerade mit einem Paket aus der Verteilstelle kam, schossen vor Empörung die Tränen in die Augen, als sie eine Kamera auf sich gerichtet sah: »Es ist schlimm genug«, schimpfte sie, »daß wir in Rußland so weit gekommen sind, daß wir Lebensmittelpakete brauchen. Aber daß wir dabei nun auch noch von den Deutschen kontrolliert werden, ist erniedrigend. Am demütigendsten ist jedoch, dabei auch noch interviewt und fotografiert zu werden.«
Einige der namentlich adressierten Pakete lieferte der Mitarbeiter des Neuköllner Bezirksamts, Olaf Thran (40), mit einigen deutschen Begleitern persönlich ab. »Obwohl sich die Menschen sehr über die Pakete gefreut haben«, räsonierte Thran nach der Aktion, »hat mich das negative Gefühl beschlichen, der überhebliche Onkel aus Deutschland zu sein, der in die Intimsphäre eindringt und die Leute beschämt.« Die Beschenkten hätten das vielleicht gar nicht so empfunden. Der kleine Einblick in die russischen Wohnverhältnisse hat den Angestellten der Abteilung Bauwesen jedoch darin bestärkt, daß die Hilfsaktion als solche richtig gewesen sei. »Alles sauber und aufgeräumt, aber nichts zu essen auf dem Tisch.« Richtiggehend erschüttert hat Thran auch, als er sah, daß eine siebenköpfige Familie auf 35 Quadratmetern lebt: »So groß ist bei mir zu Hause allein das Kinderzimmer.«
Ausrangiertes Spielzeug des Sohnes
Sein Kollege Hendrik Schmidt von der Abteilung Volksbildung, der zusammen mit der taz ein Kinderkrankenhaus und zwei Sanatorien besuchte und die Kleinen mit den ausrangierten Spielzeugautos seines Sohnes und Süßigkeiten beglückte, war von der riesigen Freude richtig bewegt: »Wenn man unseren verwöhnten Blagen in Deutschland nur einen Bonbon in die Hand drücken würde, würden die einen doch blöde angucken«, grübelte Schmidt. Auch Horst Kleinert, der dritte im Bunde von der Abteilung Jugend, war absolut davon überzeugt, daß die Pakete bei den Richtigen angekommen seien, auch wenn man ihnen die Notlage zum Teil nicht ansähe. Für die Zukunft wünschte sich der 47jährige Mann, der heute noch den Zimtgeschmack des Kaugummis im Mund spürt, den er als Junge nach dem Krieg von einem amerikanischen Soldaten zugesteckt bekommen hatte, daß die weiteren Transporte »behutsam und mit Fingerspitzengefühl« vonstatten gingen. Das große Kontrollaufgebot und die Journalisten seien zwar nötig gewesen, um das Vorurteil auszuräumen, die Spenden kämen nicht an. In Zukunft könne man die Hilfsgüter aber getrost vor Ort dem Bürgermeister übergeben, meinte Kleinert.
Auch Cheforganisator Eike Warweg zog kritisch Bilanz. »Ich werde dafür sorgen, daß die nächsten Transporte leise und diskret vonstatten gehen«, erklärte der sonst eher zu Pathos und Redseligkeit neigende Pressesprecher am vergangenen Freitag abend beim Abschiedsdiner in Puschkin. Warweg, der während des viertägigen Aufenthalts in der russischen Partnerstadt von Termin zu Termin hetzte und — vom Austausch von Verwaltungsleuten, Künstlern bis hin zur Einrichtung einer Suppenküche — viele neue Pläne hegt, ist in Puschkin ein hofierter Mann. Die große Gastfreundlichkeit für die 18köpfige Gruppe der Deutschen war schon fast beschämend. Die gesamte Mann- und Frauenschaft wurde in einem Palast einquartiert, täglich mit drei Menüs, Kaffee, Tee und Wodka reichhaltig verköstigt sowie vom Dolmetscher zum Sightseeing durch die Schlösser der Zaren geführt.
Wenn es nach Eike Warweg ginge, der in seinem Aktenköfferchen eine lange Medikamentenliste und die Adressen von 2.000 hilfsbedürftigen Müttern und kinderreichen Familien für weitere Pakete mit nach Hause nahm, soll in Zukunft alle zehn Tage eine Antonow 12 mit Hilfsgütern von Berlin nach Puschkin fliegen. Aber Warweg ist sich auch dessen bewußt, daß die russische Partnerstadt viel dringender als die Pakete »Hilfe zur Selbsthilfe«, zum Beispiel bei der Privatisierung der landwirtschaftlichen Betriebe, braucht. Beim Rückflug nach Berlin berichtete der Pressesprecher, daß Juri Nikiforow ihn gebeten habe, doch sein Berater zu werden und ihm bei der Suche nach einem Wirtschaftsexperten zu helfen. »Meine Antwort«, so Warweg, »war ja.« Natürlich könne er das nicht neben seiner Pressesprechertätigkeit machen. Und vor einem Gespräch mit seinem Chef, dem Neuköllner Bezirksbürgermeister Buschkowsky, wollte er sich nicht näher dazu äußern. Eines stand für den Pressesprecher jedoch schon fest: Die Beratertätigkeit und der Wirtschaftsexperte müsse von Berlin oder dem Bund finanziert werden. Plutonia Plarre
Der nächste Flug der Antonow ist für den 3. Feburar geplant. Spendenkonto-Nr. des Neuköllner Bezirksamts »Puschkinhilfe«: 08376600001, BLZ 10020000.
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