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Weniger Wachstum, mehr Arbeitslose

■ Jahreswirtschaftsbericht: Bundesregierung hofft auf Weltkonjunktur und moderate Tarifabschlüsse

Bonn (dpa/ap/taz) — Das Bundeskabinett hat gestern den von Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht für 1992 verabschiedet. Dieser Einjahresplan für die Entwicklung der Marktwirtschaft muß nach dem Stabilitätsgesetz alle Jahre wieder im Januar vorgelegt werden. Er muß die wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele der Bundesregierung enthalten.

Das gesamtdeutsche Wirtschaftswachstum soll nach den Prognosen, die Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) zusammengetragen hat, in diesem Jahr gut zwei Prozent betragen: 1,5Prozent im Westen (1991: 3,2Prozent) und rund zehn Prozent im Osten. Nun sind Prognosen naturgemäß mit Unsicherheiten behaftet. So ist auch das geplante deutsche Wirtschaftswachstum nur dann zu erreichen, wenn sich die Weltkonjunktur erholt. Nur dann nämlich könnten die zurückgegangenen westdeutschen Exporte wieder steigen.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor seien mögliche Streiks in der derzeitigen Tarifrunde. Die Lohn- und Gehaltserhöhungen in Westdeutschland müßten um gut einen Prozentpunkt niedriger ausfallen als im Vorjahr, als sie im Westen durchschnittlich bei 6,7Prozent lagen.

Doch selbst bei günstigen Annahmen kann nach Ansicht der Bundesregierung nicht verhindert werden, daß die Arbeitslosigkeit in Ost- und auch in Westdeutschland in diesem Jahr steigt: in den alten Bundesländern um rund 100.000 auf 1,8 Millionen Arbeitslose im Jahresdurchschnitt, in den neuen Ländern um 500.000 auf 1,3 bis 1,4 Millionen. Das bedeute für die neuen Länder eine Erwerbslosenquote von 17Prozent (1991: elf), für Westdeutschland 6,0 (5,7) Prozent und für ganz Deutschland acht Prozent. In Ostdeutschland würden erst zum Jahresende ebenso viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden können wie alte wegfallen.

Die Inflationsrate wird nach Einschätzung der Regierung 1992 in Westdeutschland mit etwa 3,5 Prozent ebenso hoch sein wie im Vorjahr, zum Jahresende aber auf drei Prozent zurückgehen. Die Erhöhung der Löhne und Gehälter — die Regierung geht von fünf Prozent im Westen und 30 bis 35 im Osten aus — würden im Westen und auch in den neuen Ländern „zum größten Teil durch steigende Preise aufgezehrt“.

Wichtigste Grundlage für den Jahreswirtschaftsbericht ist jeweils das Jahresgutachten der sogenannten Fünf Weisen, das meistens im November abgegeben wird. In diesem Jahr liegen die Prognosen der Bundesregierung, der fünf Weisen und der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute eng beieinander, sind aber — wie alle betonen — wegen der deutschen Einheit auch mit besonders großen Unwägbarkeiten behaftet.

Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Ingrid Matthäus-Maier, erklärte zu dem Jahreswirtschaftsbericht, der Bundesregierung fehle offensichtlich die notwendige wirtschaftspolitische Substanz. Daher sei eine Bündelung aller Kräfte in der Volkswirtschaft dringend nötig, Bundeskanzler Helmut Kohl solle eine „konzertierte Aktion der wirtschaftspolitischen Vernunft“ zusammenrufen. dri

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