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Den Nazis kein Denkmal setzen

■ Die prächtige Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin provoziert Kritik. Der Holocaust hätte nicht ausgeblendet werden dürfen und das jüdische Leben im heutigen Deutschland dargestellt werden müssen, heißt es. Anita Kugler sprach mit dem Ausstellungsleiter, Andreas Nachama, über jüdische Identität, Shoa, berühmte Leute und das Gemeindeleben.

taz: Fragt man Juden, was denn jüdisch sei, dann antworten sie: Zu fragen, was jüdisch ist. Hilft Ihre Ausstellung, diese Frage zu beantworten?

Andreas Nachama: Früher war die Tora identitätsstiftend, dann kamen das Land Israel, die Kibbuzim und der Sechs-Tage-Krieg hinzu. Aber irgendwann reichte das nicht mehr, vor allem nicht in den USA, die traumatischen Erinnerungen an die Shoa existieren weiterhin. Es gibt deshalb heute fast keine jüdische Gemeinde mehr in Amerika, die nicht ein Holocaust-Museum hätte. James Young, Kurator der für 1993 geplanten Ausstellung „The Art of Memory“ am Jewish Museum in New York, hat dazu in unserem Essayband einen Aufsatz unter dem Titel „Die Shoa und die jüdische Identität“ geschrieben. Er geht davon aus, daß die Shoa heute identitätsstiftende Erinnerung ist, daß sich alle kollektiv dazu bekennen können. Auch die, die nicht mehr religiös sind. Die Gefahr ist, und das sieht er auch, daß man am Ende in den Holocaust-Gedenkstätten den Nazis ein Denkmal setzt. Im Chicagoer Jüdischen Museum gibt es zum Beispiel einen Raum, da hängt ein Gebetsmantel aus Persien. In einer Ecke daneben haben Verwandte die Namen ihrer Holocaust-Opfer angebracht. Das finde ich ergreifend. Aber dann sehen Sie, daß als einziges weiteres Objekt in diesem Raum ein deutscher Wehrmachts- Stahlhelm liegt. Das ist also das Objekt für den Holocaust. Dann denke ich mir, das kann doch nicht sein, da ist doch die Geschichte auf den Kopf gestellt. Die Insignien der Täter und die der Opfer können doch nicht in einem jüdischen Museum auf eine Ebene gestellt werden.

Kommt deshalb der Holocaust in Ihrer Ausstellung nicht vor, obwohl er doch das Leben der Juden heute noch mitbestimmt?

Es gibt den Nazis zu viel Ehre, wenn man sagt, daß der Holocaust das Leben der Juden heute noch definiert. Aber er ist das identitätsstiftende Element, zu dem sich die Menschen jüdischer Herkunft am meisten bekennen können. Er ist sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner. Auch jemand, der aus dem Jemen kommt und mit dieser Frage überhaupt nichts zu tun hatte, fühlt sich als Mitglied einer Gemeinschaft von Verfolgten. Dazu braucht er nicht an einen einzigen Gott zu glauben, auch nicht eine bestimmte Politik Israels gutheißen. Die Erinnerung an die Shoa hätten wir stärker betont, wäre die Ausstellung an einem anderen Ort. Selbst in den Berliner Messehallen hätten wir anders konzipieren müssen. So aber sind wir der Meinung, daß es richtig ist, daß wir die „Jüdischen Lebenswelten“ im schönsten Ausstellungsgebäude der Stadt aufgebaut haben. Daß hundert Meter nebenan, im häßlichsten Museum der Stadt, auf dem ehemaligen Gestapogelände, die „Topographie des Terrors“ untergebracht ist, ist doch nicht zufällig, da sehen Sie doch, in welchem Kontext diese Ausstellung steht. Ich möchte die Zeugnisse der Täter nicht im gleichen Haus haben.

Gegen die Bilder des Todes setzen Sie den Reichtum des Lebens. Gehören aber nicht zu den Lebenswelten auch die Zeugnisse des verzweifelten Überlebenswillens? Ich denke dabei an die Bilder von Kindern aus Theresienstadt, an Lieder, die in Lodz geschrieben wurden, an Elegien, die zwischen den Mauern von Auschwitz versteckt wurden oder an den jüdischen Widerstand in Warschau oder in Berlin um die Gruppe Herbert Baum. Warum blenden Sie diese Geschichte aus?

Diesen Widerstand hätten wir nur im Kontext der Shoa zeigen können, es war ja eine Reaktion. Prinzipiell geht es aber um jüdische Lebenswelten weltweit und nicht um eine nekrophile Darstellung des europäischen Judentums, auch wenn die sehr populär sein mag. Ich sehe, daß es für viele eine sehr angenehme Sache ist, mit toten statt mit lebendigen Juden umzugehen. Es ist doch ein Ritual bei jeder Ausstellung jüdischen Lebens, mit den grausamen Bildern von Auschwitz zu beginnen und mit den Deportationslisten zu enden. Es gibt doch heute noch Juden, auch in Deutschland. Wir zeigen, daß der Genozid nicht möglich war, daß Hitler die jüdische Kultur nicht zertreten konnte, daß Hitler letzten Endes gescheitert ist. Die Ausgrenzung kommt nur in der Enzyklopädie der Judenfeindschaft vor, und diese windet sich nicht zufällig um das religiöse und literarische Zentrum der Ausstellung. Wir zeigen auch den Überlebenswillen, das, was Leo Baeck das „ewige Dennoch“ genannt hat. Etwa durch die Bilder von Charlotte Salomon, die als 25jährige in Auschwitz ermordet wurde.

Bei einer Pressekonferenz sagten Sie, daß jeder Mensch, der in diese Ausstellung geht, die Bilder von Auschwitz im Kopf hat. Vergißt er sie nicht, wenn er diese Schatzkammern sieht? Besteht nicht die Gefahr, daß die Deutschen sich entlastet fühlen, wenn sie sehen, daß die Vernichtung der jüdischen Kultur gar nicht möglich war?

Nein, ganz im Gegenteil. Jeder, der durch diese Ausstellung geht, erkennt am Ende des Wilnaer oder Berliner Raums sehr präzise das Elend, das über diese Gemeinschaften gekommen ist, und über die Juden aus dem Jemen eben Gott sei Dank nicht. Wir haben sehr genau überlegt, wie unsere Ausstellung, gerade im Jahr der füngzigsten Wiederkehr der Wannsee-Konferenz, den nationalsozialistischen Irrsinn zeigen kann. Wir sind überzeugt, daß jeder Betrachter, der den Reichtum der jüdischen Kultur gesehen hat, sich noch schärfer die Frage stellt, warum Hitler möglich war. Den Verlust der Juden machen wir viel begreiflicher dadurch, daß wir im Lichthof die deutsch-jüdische Literatur auffächern, anstatt daß wir zum hundersten Mal die Bilder der Bücherverbrennung vom Mai 1933 zeigen.

Warum ist es für Deutsche einfacher, Bilder von ermordeten Juden zu sehen anstatt Zeugnisse des Lebens. Viele Deutsche wollen doch, daß jetzt endlich Schluß ist mit der Vergangenheit?

Ich kann diese egozentrische Blickweise der Deutschen, wenn sie über jüdische Kultur reden, nicht mehr hören. Die Trauer über die Ermordung wird doch heute wie ein Erfolgserlebnis der Nazis hingestellt. Sie müssen mal beobachten, mit welch einer Hingabe junge deutsche Historiker die Lebensläufe der Täter analysieren, und vergleichen Sie diese Anstrengungen mal mit den kläglichen Versuchen, die Lebensläufe der Opfer herauszufinden. Ich kann diese Lust, auch noch die Karrieren der letzten Nazis zu erforschen, nur noch mit einem Hinweis auf die Tiefenpsychologie kommentieren. Sicher, viele dieser Darstellungen sind gut gemeint. Das Problem ist aber, daß dieser Blick auf die Täter auch in viele Holocaust-Gedenkstätten einzieht. Wenn Sie zum Beispiel in Sachsenhausen die „Jüdische Baracke“ besichtigen, dann sehen Sie einen Häftlingskittel und daneben einen Tora-Vorhang. Da frage ich mich schon wieder, was das soll. Ein Tora-Vorhang wurde nie und nimmer in einem Konzentrationslager aufgehängt. Da wird ein Bild der nicht-jüdischen Lebenswelten vermittelt, das eigentlich nur den Erfolg der Nazis verherrlicht. Als ob alles den Bach hinuntergegangen sei. Und das ist glücklicherweise nicht der Fall.

Die Ausstellung provoziert ihrer Auslassungen wegen. Kritiker, vor allem jüdische in Berlin, behaupten, daß Sie gegen das Klischee des osteuropäischen Schtetl-Juden das Klischee des angepaßten, erfolgreichen, begabten jüdischen Genies setzen. In den Kabinetten Aufklärung, jüdische Emanzipation, Kaiserreich und Weimarer Republik kommen nur die vor, die die Chancen, die ihnen die bürgerliche Gesellschaft gab, zu nutzen wußten.

Das stimmt nicht, denken Sie an den Plural. Die Ausstellung heißt nicht „Die jüdische Lebenswelt in Deutschland“, denn dann müßte sie anders aussehen, sondern heißt „Jüdische Lebenswelten“. Berlin ist durch die Mauer so provinziell geworden, man muß über den eigenen Tellerrand gucken. Wir zeigen die armen Aschkenasim, die Flickschuster, Händler und Schneider, beispielsweise in den Räumen Amsterdam und Wilna, und wir zeigen auch die Unangepaßten, etwa die Bundisten oder die zionistische Bewegung. Wir bürsten vor allem gegen das Klischee. Juden mit Kaftan und langem Bart kommen nur in Fotos der Lower East Side vor. Wir können nicht alle Facetten des jüdischen Lebens gleichermaßen regional differenziert darstellen. Wichtig ist uns, daß wir beweisen, daß ein Jüdisches Museum möglich, daß nicht alles vernichtet ist. Um das Material auszustellen, was wir gefunden und nicht präsentiert haben, müßten wir zwanzig Jahre lang permanent Sonderausstellungen machen. An Themen mangelt es wahrhaftig nicht. Bei der Darstellung der Juden in Deutschland war es uns wichtig, nicht nur den berühmten Tora-Vorhang und eine Statistik der fehlenden Juden zu zeigen, sondern vor allem das Besondere, beispielsweise das Wirken jüdischer Industrieller in der Konfektions- oder Elektroindustrie, oder für das 19.Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen Neo-Orthodoxie und Reformjudentum. Eine Ausstellung muß, um Walter Benjamin zu zitieren, immer übertreiben. Defizite haben wir versucht durch einleitende Beiträge im Katalog und Aufsätze im Essayband aufzufangen.

In Berlin lebten aber nicht nur die Rathenaus und Albert Einstein, sondern im Scheunenviertel in den 20er Jahren etwa 40.000 arme jüdische Ausländer, denen die Fremdenpolizei hinterher war.

Richtig ist, daß die Unterschichten fehlen, aber das ist auch ein museologisches Problem. Für die Ausstellung hatten wir zweieinhalb Jahre Zeit. Objekte, die das Leben der Armen zeigen, gibt es kaum. Die Fotos, die es von ihnen gibt, sind zu neunzig Prozent antisemitisches Agitationsmaterial. Die Jüdische Abteilung des Berlin-Museums sucht seit Jahren ausstellbare Zeugnisse und ist auch nicht weiter gekommen als wir. Ich bin überzeugt, daß wir aber durch die Erschließung der Museen und der Archive im Osten noch einige Überraschungen erleben werden. So haben wir kürzlich bei unseren Recherchen in Warschau das alte Fotoarchiv der Berliner Jüdischen Gemeinde gefunden, leider war es uns nicht mehr möglich, es auch zu benutzen. Insofern kommt unsere Ausstellung um zwei Jahre zu früh. Dafür zeigen wir aber die entsprechende Literatur, etwa Döblins Berlin Alexanderplatz.

Die orthodoxe Berliner Gemeinde Adass Jisroel behauptet, daß die aktuellen Konflikte, die sie heute mit der Einheitsgemeinde hat, dazu geführt haben, daß auch im 19.Jahrhundert ihre Geschichte nicht vorkommt.

Das ist Unsinn. Im Lichthof befindet sich eine ganze Insel, die sich nur mit dem Wandel im Judentum beschäftigt. Da findet sich der Rabbiner der Adass-Gemeinde, und da sieht man auch die Vordenker der Neo-Orthodoxen und ihre Auseinandersetzung mit den Reformern und Liberalen. Man muß eben suchen können, wir präsentieren nicht alles mundgerecht auf dem Silbertablett. Adass war viel zu wichtig, um nur mit drei Zeugnissen im Berliner Raum abgehakt zu werden. Es war eine Weltbewegung, die von Berlin ausging. Und als solche ist sie dargestellt. Das Problem ist, daß diese Kritiker die Geschichte nicht kennen, nicht wissen, daß Samson Raphael Hirsch Vordenker der Austrittsgemeinden in Berlin und Frankfurt gewesen ist. Im übrigen wird als eine der letzten Synagogen im audiovisuellen Programm die von Adass Jisroel gezeigt.

Wenn Sie das „ewige Dennoch“, dieses „Trotzdem“ zeigen, warum erzeugen Sie den Eindruck, das Juden heute nur noch in Amerika oder Israel leben? Warum kommt das schwierige Leben der Juden in Deutschland nicht vor?

Das jüdische Leben in Deutschland ist doch nur noch ein Zitat. Es gibt zwar eines, und das deuten wir am Ausgang des Berlin Raumes auch an. Dort hängt ein winziges Bild von Juden in Berlin 1946 — und ein anderes kleines Bild zeigt, wie der Davidstern auf die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße gehievt wird. Mit dieser Auswahl deuten wir an, wie klein und bescheiden es weitergegangen ist. Wir haben eine kulturhistorische Ausstellung gemacht, keine epochale oder regionale. Hätten wir diese zarten Pflänzchen jüdischen Lebens, die es hier gibt und sich vielleicht weiterentwickeln — aber vielleicht auch nicht — gleichgesetzt mit dem pulsierenden Leben in New York, wäre das doch eine Geschichtsklitterung, eine maßlose Übertreibung gewesen. Als ob hier wieder eitel Freude herrscht. Das ist doch lächerlich. Es ist doch unerheblich — verglichen mit der Vielfalt in New York —, ob es in Berlin wieder eine Synagoge mehr oder weniger gibt. Sollen wir durch ein Aufblasen der bescheidenen Ansätze den Besucher der Ausstellung, der die Bilder der Rampe von Auschwitz im Kopf hat, etwa beruhigen und sagen, nein, nein, Hitler ist auch in Deutschland gescheitert. Das wäre doch, um einen jüdischen Kritiker zu zitieren, „Großdeutschland“ oder mindestens eine „Wiedergutmachungswerdung“ der Deutschen. Mich packt die Wut, oder, um Liebermann zu zitieren, so viel kann ich gar nicht essen, wie ich kotzen möchte, wenn ich daran denke, daß keinem einzigen Juden, der von den Nazis zwangsweise ausgebürgert wurde, freiwillig die deutsche Staatsbürgerschaft wiedergegeben worden ist. Kein Bundespräsident hat jemals die aus Deutschland vertriebenen Juden wieder eingeladen, zu kommen. Nein, nein, jüdisches Leben, und da visualisieren wir mal den Talmud, heißt zwei Juden, drei Meinungen, heißt Kontroverse, und dafür muß auch das Umfeld da sein.

Aber Streit gibt es doch in Berlin?

Ja, es ist ein kleiner Beginn. Aber verglichen mit den wirklichen Kontroversen: Rabbinerinnen, jüdischer Feminismus, Ultra-Orthodoxie, ist der aktuelle Streit zwischen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Adass Jisroel unerheblich und gehört nicht in ein Museum, sondern zwischen Buchdeckel oder in die Zeitung gepackt. Ich weiß, dies sehen einige anders. Anfang März wollen wir eine Veranstaltung über die Ausstellung und all diese hier angerissenen Fragen machen. Da werden wir die verschiedenen jüdischen Gruppen dazu einladen. Dann sollen die Fetzen fliegen. Darauf freue ich mich schon.

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