Exitus interruptus

■ Ein überaus trauriges Debakel: Anton Tschechows „Onkel Wanja“ im Bremer Schauspielhaus

Lieber tät ich mich einmal gründlich ausschweigen, zumal über diesen Abend aus Patzern und Pfuschern; is eh schon alles Powidl, wie der Herr Travlitschek sagt. Aber daß unser Bremer Theater jetzt auch noch, nach all den mutwilligen Havarien, einen ganzen Tschechow versenkt hat, das ist der erste wirkliche Unglücksfall — umso trauriger, als niemand haftbar ist. Nicht Annegret Ritzel, die Regisseurin, die den „Onkel Wanja“ eine Woche zuvor schon fast flott hatte; auch nicht das Ensemble, welches plötzlich leierte und schluderte und schlotterte; man ist ja abgesoffen wie nix mit solcher Nußschale von Stück, wir haben es mitansehen müssen. Am Ende trotteten acht Verstörte auf die Bühne und ließen sich vom dünn plätschernden Beifall begießen wie Pudel.

Ja, der Tschechow war's. Grad extragenau hat er seine Stücke in Sprache gesetzt; grad der „Onkel Wanja“ ist eine echte feine Kammermusik, eine Fuge sozialen Stillstands — man muß ihre Stimmen immerzu ineinanderführen, sonst bleibt einem bloß das Libretto der Langeweile: Landgut wird von gockeligem Professor samt seiner Frau (jung, schön) heimgesucht; am Ende rauschen sie davon auf der Flucht vor den Wirren, die sie angerührt haben, und hinter ihnen schließt sich die Ödnis, öder noch als zuvor.

Wehe, wenn da der Onkel Wanja alle Naselang über seinen Text stolpert; wenn die andern einander, statt zu stützen, verstören; wenn der wichtige Astrov sich, statt aus echter Verzweiflung dem Wodka, lieber einer falschen Verdrießlichkeit ergibt — da trägt bestimmt die Technik das ihre bei, nämlich die Panne. Und all das geschah und scheuchte unsereinen hin und her zwischen Leid und Beileid.

Da war sogar die einzig sichere Szene verloren: Der Wanja, welcher zweimal auf den verehrten, den geliebten Professor schießt und zweimal den Professor verfehlt, den aufgeblasenen Affen, den er dreißig Jahre lang mit schwerer Arbeit ernährt hat, der Wanja also, unser Wanja aus'm Volke, der es geradezu fertigbringt, an seinen Parasiten zu schmarotzen, dieser Wanja ist auf der Bühne bloß zum Auslachen ungeschickt.

Leider kann man solchen Unglücksraben gar nicht böse sein. Auch hab ich mir, allerdings vor Gähnen, das Maul schon genug zerrissen. Es kommt halt nicht in Gang, das Stück. Glücklichenfalls wäre ein präzises Diagramm all der gegenseitigen Paralysen herausgekommen, wo alle alle müde machen, eine Darstellung der sozialen Fangschaltung, in der die Seelchen um ihr Leben flattern, aber mehr nicht zuwege bringen als: Aufschub des Todes. Im großen wie im kleinen: noch einen Tag, noch eine Liebe — und ehe man allerletzten Endes doch die Kutsche anspannen läßt: noch einen Wodka.

Mit so geringen Mitteln hat Tschechow ein Drama geschaffen, in dem alles Leben abläuft als ein exitus interruptus. Vor derart traurigem Fall wären, wie Tschechow sagte, die Zuschauer zu versammeln wie Geschworene.

Im Schauspielhaus aber war, statt schlechtem Leben, nur schlechtes Spiel zu beurteilen: Ullo von Peinen verweigerte sich kurzerhand seiner Rolle und stopfte sie mit dem Sägemehl seines Mißmuts aus. Da stand dann Astrov, der Arzt, herum wie ein Finsterling, er, der zartbittre Dr. Zynikus, der doch die Frauensleut hätte berücken sollen. Und Dietrich Hollinderbäumer machte aus dem armen Wanja, der seine Talente vor die Sau wirft, einen armen Tropf, der sich dem Publikum hinschmeißt — welches, weil es auch nicht mehr aus und ein weiß, lacht.

Nun ja, auch das Bühnenbild (Jorge Villareal) hat zur Konzentration nicht eben gedrängt: traumschöne Landhauskulisse, bißchen bleichsüchtig, aber andererseits leider, mit gemalten Tapeten und gedrechselten Möbelchen, realissime bis zum letzten Strohblumenblütenblatt. Lauter Ablenkung, und lauter Gelegenheit für Pannen.

Annegret Wagner als schöne Elena im schönen Landhaus war schön und spielte dagegen die Elena leicht pikiert, als käme sie ihr doof vor. Vielleicht zurecht, wo ja doch zwei tragende Männerrollen schon ausgefallen sind. Der häßlichen Sonja erging es nicht besser: Angelika Bißmeier, deren Talent zur Exaltation, zum unbändigen Spiel, auf umso präziseres Zuspiel angewiesen ist, verlief sich mangels Paßgenauigkeit in ratlosem Schlenkern. Und die Geschworenen, wie gesagt, lachten.

Ein Glück, daß leider ein Tschechow gar so leicht mißlingt. Umso aufrichtiger dürfen wir hoffen, daß ein bißchen Nachproben, verschärft durch harte Worte, das nötige kleine Wunder bewirkt. Wenn das Stück nur so leidlich geriete, wie ich's auf einer Probe schon gesehen habe, will ich gar nichts gesagt haben. Manfred Dworschak

Nächste Aufführung: Samstag, 8.2., um 20 Uhr im Schauspielhaus