Comic-Markt in der Krise

Über den 19. Comic-Salon in Angoulême  ■ Von Martin Frenzel

Angoulême blickte zum Kolumbus- Jahr über den Atlantik und entdeckte den Comic- Kontinent Amerika. Das unangefochtene Mekka der europäischen Comic-Kultur lud zum 19. Salon International de la Bande Dessinée vom 22. bis 26. Januar nahezu die gesamte US-Comic-Subkultur ein.

Ansonsten prägte in Angoulême — im Jahr eins nach dem Beinahe- Bankrott — der merkantilistische Aspekt das Messegeschehen. Die Rolle des Deus ex machina oblag — neben der nationalen Sparkasse, der comicophilen Caisse d'Epargne — zuvörderst der Supermarktkonzernkette Leclerc und dessen agilem Chef Michel-Edouard Leclerc. Mit einem Dreijahresvertrag sicherte der „Massa“-König Frankreichs dem krisengeschüttelten Festival an der Charente, zumindest vorläufig, das Überleben. So lag denn auch das Budget mit insgesamt zwölf Millionen Franc (etwa vier Millionen D- Mark) ähnlich hoch wie in den Vorjahren. Leclercs Ziel: „Aus Angoulême das Weltfestival der Comics machen.“ 100.000 Comic-Besessene reisten an.

So waren — neben nahezu allen europäischen Comic-Verlagen von England bis Portugal, zudem Kanada, Japan und sogar Taiwan rund fünfzig US-Verlage im Riesenzelt am Champs de Mars zugegen. Nicht nur die Giganten Marvel und DC rückten mit ihrem Superheldenschrott an, auch kleine und mittelgroße Verlage wie Fantagraphics, Dark Horse und Tundra präsentierten ihre Titel als Teil der „Graphic Novel“-Revolution in Amerika. „Graphic Novel“ steht in den USA für das, was man hierzulande den bibliophil aufgemachten Autorencomic nennt. „2000 minus 8“ hieß die Ausstellung. Im gläsernen Multimedia-Comic-Tempel des Centre Nationale de la Bande Dessinée et de l'Image gaben sich Altstars wie Joe Kubert (Prince Viking, Sgt. Rock, Tarzan und andere im lyrisch-realistischen Schraffur- und Skizzenstrich gehaltene Comic-books) und der zu Unrecht bei uns kaum bekannte Batman-Zeichner Jerry Robinson (der Erfinder des ewig grinsenden Superschurken „The Joker“) ein Stelldichein. Der Salon bot nahezu allen in den USA ein Mauerblümchendasein führenden Comic- Künstlern der Subkultur und Underground-Comix-Szene ein internationales Forum.

Künstler der US-Alternativszene wie Art Spiegelman (Katz- und Maus-Fabel Maus II und Journal Raw), die „Weirdo“-UndergroundComix-Riege um Chester Brown, Julie Doucet und Mary Fleener erhielten so ungewohntes Rampenlicht. Indes fehlten die (eingeladenen) Stars Linda Barry (die in den USA als „Queen der Comic-Comedy“ des Alltags gilt), Alttexter Lee Falk (Mandrake the Magicician, The Phantom) und Simpsons-Superstar Matt Groening (Motto: „Life is a hell“).

Zum „besten ausländischen Comic“ kürte die „Alpha Kunst“-Preisjury von Angoulême um den vielleicht derbsten Comic-Gagtüftler aller Zeiten, Marcel Gotlib (deutsche Werke Hamster Fidel, Arrgll 1 und Arrgll 2, alpha comic) den Jahrhundert-„sophisticates humor“-Zeitungscomic Calvin und Hobbes. Der publikumsscheue Bill Watterson, Schöpfer jener genial perfiden Dramen des schrecklichen Kindes Calvin und seines sprechenden Schmusestofftigers Hobbes (deutsch bei Kurt Krüger) glänzte gleichfalls durch Abwesenheit.

Die andere Ausstellung im C.N.B.D.I., „Le Monde selon Crumb“, zeigte die vielen Gesichter des Robert Crumb. Der fast 49jährige, in einem französischen Dorf nahe Nimes im Exil lebende „Sex, drugs and jazz n'blues“-Neurotiker, wurde hier gefeiert wie ein Comic- Gott. Von Mr. Natural („wise and manipulative“) über Fritz the Cat bis zum Selbstbekenntnis My troubles with women — keine Hinterlassenschaft des Schraffurkönners und Liebhabers der US-Zeit von 1860 bis in die 1930er blieb ungezeigt. Crumb vertrug die Blitzgewitter der Weltpresse nicht: Trotz Schützenhilfe von U-Comix-Kollegen Gilbert Shelton (die Kultusserie Freak Brothers, deutsch beim Rotbuch Verlag, feiert dieses Jahr sein 25jähriges) und Gotlib versteckte sich das abgründige Genie hinter dem eigenen Ausstellungskatalog und sagte kurz darauf die geplante Vernissage wegen Übelkeit ab. Gotlib selbst hatte sich schon zuvor für die Sensationsgier der 458 akkreditierten Journalisten bitter gerächt: Er ließ zur Eröffnung seiner „Gotlib-Ich-Kult-Werkausstellung“ im St. Martial 80 Kilogramm Broccoli in saurer Dressingsauce servieren. Sein aus Wurfbuden, Karussell und televisionären Achterbahnfahrten zusammengerührte „EuroGotlibland“ bewegte sich hart am Rand zum Kitsch, erwies sich aber prompt als der Publikumsrenner. Dem Narzißmus grenzenlos frönend, enthüllte Gotlib gar vorm Rathaus sein eigenes Denkmal, „Deconum Rex“.

Eigentlicher Höhepunkt des Salon: der 72jährige Argentinier Alberto Brecchia, der einen hervorragenden Kontrapunkt zum USA- Tamtam bildete. Brecchia, Zeichner grotesk-literarischer Meisterwerke wie Mort Cinder (stark von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft inspiriert) und dem glänzenden, bei Glénat neu aufgelegten Spätwerk Perramus (einer nach Borges gezeichneten großen Abrechnung mit der argentinischen Militärdiktatur und Saga um die Geschiche Argentiniens) über sich: „Im Grunde bin ich ein blutiger Humorist.“ Erst jetzt, nach Ende der Militärdiktatur in Buenos Aires, darf diese grauenvoll-groteske Trilogie in seiner Brocchias erscheinen. Angoulême feierte den großen, alten Mann des argentinischen Comics mit stürmischen Ovationen bei der Preisverleihungsgala des europäischen Comic-Oskars, des Alpha Kunst- Preises.

Mort Cinder (deutsch bei Carlsen) schildert in kunstvoller Schattenrißgrafik die Schreckensgeschichte um den wieder zum Leben erweckten Kriminellen Mort Cinder. Texter des Klassikers von 1962 bis 1964 war Hector Oesterheld. Brecchias Engagement gegen die Folterjunta schlug sich unter anderem in einer Kurzgeschichte nieder, die in der Anthologie Die Menschenrechte deutsch bei comicplus erschienen ist. Während Crumbs Gesamtwerk nun bei Carlsen neuaufgelegt wird, harrt Brecchias Werk unverständlicherweise weitgehend einer deutschen Veröffentlichung.

Der Trend zu Comic-Anthologien war in Angoulême überall spürbar: Nach dem New York, New York- Band (unter anderem mit Jerôme Charyns brillanter Kurzstory Brother John um Drogen und Vietnamkriegsfolgen mit Zeichner André Juillard, deutsch bei Glénat) kündigen sich Sammlungen zu Johnny — Les Années Soixantes als Hommage an den 60er-Rock n'Roll um Johnny Halliday und Co. an (von Baru, Riff Rebb, Yann) sowie die zum Erlanger Salon im Juni erscheinende Anthologie America, America (mit Tardi, Cosey, Mézières und Moebius, bei Carlsen). Just zum Salon in Angoulême erschienen und ausgestellt im C.N.B.D.I.: das Album L'Avenir du Latex (Die Zukunft des Gummis, deutsch bei Carlsen). Ein Dutzend Comic-Zeichner widmen sich dem Thema „Präservative, Pariser und Kondome“ (mit Joost Swarte, Ralf König und Miguelanxo Prado).

All diese Initiativen können aber über die Krise des Comic-Marktes nicht hinwegtäuschen. „Der Nachbar Belgien ist das wahre Eldorado der Comics“, rückte C.N.B.D.I.- Experte Thierrry Groensteen ein Klischee zurecht. Frankreich sei lediglich führender Comic-Markt in Europa. Vierzig Prozent der auf französisch erscheinenden Comic- Titel kämen aus den belgischen Verlagshäusern Lombard, Casterman und Dupuis. Mit Verweis auf die belgischen Comic-Größen Hergé, Franquin, Peyo und Edgar P. Jacobs erklärte Groensteen: „Ein französisch sprechender Belgier liest zweieinhalb mehr Comic-Alben im Durchschnitt als ein Franzose!“ Aber auch in Belgien geht's bergab. Die Lage sei „alarmierend“. Dem Magazinsterben (Pilote, Circus, Tintin) folge nun ein Rückgang der Albentitel und Auflagenziffern.

Symptomatisch: Die Jury des Alpha Kunst-Preises verlieh den Hauptpreis 1992 nicht an einen Belgier, sondern an einen waschechten Franzosen, nämlich an Frank Margerin. Dessen Vorstandgang- und Rock- und Tote-Hose-Jugendszenecomics um Ricky, Lucien und Co. sind ein Brennspiegel der Jugendkultur Frankreichs in den achtziger Jahren. Der 40jährige Margerin pflegte für seine dreizehn Alben einen humoristisch-glatten New-Wave-Stil, eigenwillig zwar, aber nur halb so charakterstark wie die Arbeiten seines Vorgängers Gotlib. Deutsch sind Margerins Arbeiten bei alpha comic, Carlsen und seit kurzem auch bei Ehapa erschienen. Andere hätten den Preis wohl eher verdient.

„Angoulême ist definitiv installiert“, zog Angoulême-Kulturchef Jean Mardikian, 1974 Begründer des Salons, Bilanz, „der nächste Salon 1993 wird sich Europa in Ost und West widmen.“ Der schmale Grat zwischen Kunst, Kitsch und Kommerz sollte dabei mehr Beachtung finden als in diesem Jahr (zu viel Broccoli und sonstiges Brimborium). Den Veranstaltern möchte man mehr Mut zum Tiefgang wünschen.