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Wo Gott die Finger klamm wurden

Sibirien will Rußlands Wilderei bei Bodenschätzen und Industrie ein Ende machen/ Die Ölindustrie ist ramponiert, der Lebensstandard in Rußlands Schatzkammer sinkt weiter/ Der Westen soll helfen, zugleich herrscht Angst vor dem Ausverkauf  ■ Aus Tjumen K.-H. Donath

Als Gott Himmel und Erde schuf und in einem Anflug von Großmut über Wasser, Berge und Wüsten flog, um die Schätze gerecht zu verteilen, wurden ihm über den eisigen Weiten Sibiriens die Finger klamm. Er ließ den Sack voller Reichtümer einfach fallen. Seither liegen unter dem ewigen Eis dieses gottvergessenen Endes der Welt unendliche Naturschätze. Bis auf den heutigen Tag erzählen sich Einheimische und „zugereiste Pioniere“ diese Legende.

Das Bewußtsein von der Unermeßlichkeit des Naturreichtums hat sich indes auch im Zeitverständnis eingenistet. Die Zeit war einmal in Hülle und Fülle vorhanden. Mit ihr hatte man ebensowenig Nachsehen wie mit den Ressourcen der Natur. „Na, wird das nun endlich was?“ brüllt der Pilot aus der Cockpitluke übers Rollfeld. Eine Viertelstunde ist seit der Landung vergangen. Das Bodenpersonal im westsibirischen Tjumen macht keine Anstalten, die Gangway ranzurollen. Die Uhren gehen immer noch anders im „wilden Osten“ Rußlands.

Zugeständnisse bleiben Papier

„Mit den eigenen Kräften allein kommen wir aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus“, meint Sergej Werin. Er ist Politologe und gehört zum Beraterstab des neuen ersten Mannes im Bezirk Tjumen. Chef Schaffranin hält sich an diesem Wochenende in Moskau beim Vorsitzenden des russischen Parlaments Chasbulatow auf. Das Verhältnis zwischen Moskau und der sibirischen Provinz ist alles andere als spannungsfrei. Seit jeher behandelte Moskau Sibirien wie eine Kolonie. Im Klartext hieß dies: rausholen, was sich rausschlagen läßt. In die Stadt- und Dorfentwicklung jenseits des Urals flossen in den letzten Jahren weit weniger Mittel als im europäischen Teil. Mit der Erschließung der Region in den fünfziger und sechziger Jahren erlahmte das Engagement. Die Voraussetzungen zur Ausbeutung waren geschaffen. Fortan geizte man nur mit den Aufbauhymnen nicht. „Das Verständnis für die Region ist in letzter Zeit gewachsen“, räumt Werin ein. Doch zufrieden sei man immer noch nicht. Dabei streckt er seinen Bleistift über die Schreibtischkante und deutet auf die Spitze: „Das ist es, was wir von unserem eigenen Ausstoß erhalten.“ Ein Bruchteil. Schaffranin will in Moskau mehr herausholen. Auf dem Papier hat man Tjumen schon einiges zugesichert. Zehn Prozent der Erlöse erhält der Bezirk, und weitere zehn werden den Unternehmen zur Reinvestition zugestanden. Vor anderthalb Jahren legte Jelzin das in einem Erlaß zum „Wachstum des Bezirks Tjumen“ fest. Bis heute mangelt es an den Ausführungsbestimmungen.

Leben wie im Ölscheichtum?

Achtzig Prozent der Deviseneinnahmen der ehemaligen Sowjetunion stammen aus dem Verkauf sibirischer Rohstoffe. Das Öl allen voran. Von den etwa 450 Millionen Tonnen Rohöl Jahresproduktion schürfte Westsibirien in seiner guten Zeit allein zwei Drittel. Kein Wunder, wenn sich vor Ort die Vorstellung entwickelt hat: eigentlich könnte man so gut leben wie in einem Ölscheichtum. Nur fehle der „umsichtige Potentat“. Wie in allen sowjetischen Industriezweigen sank auch beim Öl die Produktivität. Die Prognose für 1992 fällt alarmierend aus. Die Consulting-Firma „Hermes“ geht von maximal 400 Millionen Tonnen aus. Das hätte verheerende Folgen: „Wir könnten nichts mehr exportieren und müßten auf andere Importe verzichten. Womöglich sind wir gezwungen, in der zweiten Jahreshälfte sogar Öl einzuführen. Doch wovon?“ „Die Neftiani haben schon mehrfach mit Streik gedroht, ihn aber nicht wahr gemacht. Sie sind verantwortungsvolle Leute, denn sie wissen, das wäre der Todesstoß für das Land“, nimmt Werin die Ölschürfer in Schutz. Daran liegt der Produktionsabfall also nicht. Vor allem sei es ein technologisches Problem. „Mehr als sechzig Prozent unserer Anlagen und Bohrtürme stammen aus den fünfziger Jahren. Um sie effektiver zu machen, fehlt wieder das Geld.“

Locker machen ließe sich das, aber nur auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung. Doch die muß schon genug darben. Unter dem Deckel brodelt es. Valerij, der rüstige Rentner von siebzig Jahren, verdient sich sein Zubrot durch Taxifahren. Er widerspricht sich manchmal noch im selben Satz. Das tut seiner deftigen Unterhaltungsfreude aber keinen Abbruch: „Früher hatten wir alles, Lachs, Hecht, Stör und Brachse, wunderbare Fruchtliköre... Ach, zum Teufel, Jolki-Polki — fuck your mother!“ stöhnt er immer wieder. Er war für Jelzin, aber jetzt? „Jolki-Polki“. Auf der Brücke über den zugefrorenen Tabol nickt er flüchtig mit dem Kopf: „Ein Loch haben sie ins Eis geschlagen. Doch was sie fangen, müssen sie wieder zurückwerfen“, meint er verächtlich. Wieso? „Kerosin“, sagt er nur.

Die ganze Gegend ist versaut

Die ganze Gegend sei versaut. „Alles lassen sie rumliegen, alte Maschinen, Traktoren, und überall fließt Öl unkontrolliert.“ Ein Tropfen reiche aus, um einen Kubikmeter Wasser zu verdrecken. Im Norden, im Jamal- Nenzenbezirk, seien ganze Seen verseucht. Die sibirischen Ureinwohner, Nenzen und Jakuten, hätten protestiert, aber was nütze es... Eine Gesetzgebung, die die Ausbeutung der Quellen reglementierte, gibt es bis heute nicht. Die Unzufriedenheit hat auch im Tjumensker Bezirk zu Sezessionstendenzen geführt. Die Kreise, Jamal und Chanti-Mansinskij, wollten sich vom südlichen Tjumen lossagen. Mit einer Million Quadratkilometern umfassen sie immerhin zweimal die Fläche Frankreichs. Ureinwohner und Zugereiste zogen an einem Strang, in der Hoffnung, die Lebensverhältnisse verbessern zu können. Die Gefahr sei jetzt gebannt, spielte Werin den Konflikt runter, verfassungsrechtlich wäre es gar nicht machbar. Doch wen interessiert die Verfassung? Valerij zeigt Verständnis für die Nordlichter: „Schließlich produzieren sie alles, behalten aber nix.“

„Ein Meer von Öl“

Am selben Tag werden einige hundert Ausländer in Tjumen erwartet. Die lokalen Medien rotieren schon. Ein Kongreß unter dem Motto „Contact to Contract“ ist angesagt. Vorsichtig will man die Möglichkeiten internationaler Kooperation bei der Ölgewinnung ausloten. Organisiert hat das ganze Tim Fitzgerald vom Washingtoner Forschungsunternehmen „Argonne“: „Es geht darum, die großen Ölfirmen hier rauszuhalten, die allein schnelles Geld machen wollen.“ Deren Hunger scheint gewaltig: „Wir stecken in einer Depression, das Interesse ist aber riesig, denn wir sitzen auf einem Meer von Öl“, kommentiert der Abteilungsleiter des örtlichen Ölkonzerns Katin im Vorübergehen. Mehr Zeit hat er nicht. Regionale Stabilität will man erreichen. Das könnten kleinere Firmen durch gezielte Unterstützung besser leisten, erläutert Fitzgerald. Die Bereitschaft auf beiden Seiten ist groß. Doch die Ressentiments gegenüber einem „Ausverkauf Rußlands“ dürfen dabei nicht unterschätzt werden. Vor den Erholungsheimen der abgelösten Nomenklatura, in den Hügeln der Vorstadt, meint Valerij stolz: „Und diesen Reichtum den Japanern geben, niemals!“ In Sibirien verkörpert den raubgierigen Imperialisten eindeutig der Japaner. In der zentralen Moskauer Presse taucht diese Stimmung ebenfalls auf. Die Ölexperten Kroll und Schkurin sparen nicht mit Selbstkritik. Doch schließlich hätte man 1986 auch ohne ausländische Hilfe 22 neue Bohrplätze erschlossen. Es sei völlig unverständlich, warum man heute den „Ölreichtum mit den Warägern“ teilen sollte.

Wjatscheslaw Medwedjew, Präsidiumsmitglied des Stadtsowjets, würde den Herren wohl gehörig was erzählen. Seine Stimme dröhnt, zunehmend wird er lauter: „Sechzig Prozent unserer Schulen können wir keinem Menschen zeigen, fast die Hälfte der benötigten Kindergartenplätze fehlen, und in den Krankenhäusern sieht es katastrophal aus.“ Und die Leute bleiben trotzdem ruhig? „Noch ja. Wir versuchen ihnen ständig zu erklären, daß wir an der Misere keine Schuld tragen.“ Auch er baut auf die Hilfe ausländischer Firmen und die längst überfällige Privatisierung. Ansonsten baut er Tomaten an.

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