Gottsucher

Am Schiffbauerdamm gestrandet  ■ Von Esther Slevogt

Zweimal in diesem Jahrhundert hat das Theater an einen neuen Menschen geglaubt. Zuerst hat ihn am Anfang des Jahrhunderts der Expressionismus emphatisch beschworen. Als dieser neue Mensch aber dann in der Gestalt des Ariers Europa und seine Kultur verwüstete, beschlossen die, welche auferstanden waren aus seinen Ruinen, daß man beim zweiten Mal nun drastischere Methoden anwenden müsse, um mit dem diesmal nun sozialistischen Menschen ein besseres Resultat zu erzielen. Auch das ist, wie man heute weiß, gründlich in die Hose gegangen. Und so sitzt man einigermaßen gespannt im von gründerzeitlichem Stuck prächtig verzierten Zuschauerraum des Berliner Ensembles, vormals Theater am Schiffbauerdamm, betrachtet mit gewisser Rührung den pathetisch rot durchkreuzten Preußenadler hoch oben links über dem Proszenium, während rechts, ihm gegenüber, der Berliner Bär ganz ungestört sein Männchen macht. Gespannt auch deshalb, weil man sich gewissermaßen an der Brutstätte jenes zweiten Modells vom neuen Menschen befindet. Nicht ohne Sehnsucht gedenkt man jener Zeit, die doch versprach, eine bessere zu werden. Und auch des Theaters, das an diesem Ort gemacht wurde. Aber das ist lange her und war bevor man hier begann, sich die Bretter, die die Welt bedeuten, vor die Stirn zu nageln.

Heute abend soll nun ein Stück gespielt werden, dessen Autor den Traum vom neuen Menschen zwar auch geträumt hat, dem ein Happy- End in dieser Frage jedoch ziemlich unwahrscheinlich schien. Und zwar Ernst Barlachs Der arme Vetter aus dem Jahr 1919. Eine Handvoll Menschen, Paare und Passanten, denen wir in einem schäbigen Gasthaus begegnen. Jeder hofft auf seine Weise darauf, erlöst zu werden. Der Zeitpunkt scheint günstig, schließlich ist Ostern, das Fest der Auferstehung Christi. Und auch eine Art Messias erscheint. Doch der steht nicht auf, sondern geht unter. Er nimmt sich das Leben am Schluß.

Die Dramen Barlachs, jenes hysterischen Propheten, wie Jürgen Fehling ihn einmal nannte, der 1923 Der arme Vetter in Berlin uraufführte, nahmen früh ein Motiv vorweg, das in den fünfziger Jahren in Westeuropa Kunst und Lebensgefühl bestimmen sollte. Die Gottverlassenheit des einzelnen in einer sinnentleerten, absurd gewordenen Welt. In der DDR gab es damals eine „aufsteigende Arbeiterklasse, die vertrauensvoll in die Zukunft blickt“, gerade dabei, zum Dogma zu erstarren. Pessimistische Kunst galt als dekadent und menschenfeindlich. Ein Dramatiker wie Samuel Beckett war dem großen Bertolt Brecht zutiefst suspekt. Und als müsse sich sein Theater von heute dafür rechtfertigen, daß es einen Autor wie Barlach, dessen frühes Stück Der tote Tag sich wie ein entfernter Ahn von Becketts Warten auf Godot liest, aufzuführen wagt, druckt es im Programmheft seitenweise ziemlich belanglose Überlegungen des BB zu Barlachs Bildhauerei aus dem Jahr 1952 ab. Hier soll anscheinend zusammengekleistert werden, was nicht zusammengehört. In den Jahren 1951/52 aber tobte in der DDR die Formalismus-Debatte, wo sogar Brecht selbst unter Beschuß geraten war. Und manchem Kritiker waren damals auch die wackeren Plastiken Barlachs noch nicht wacker genug, weshalb Brecht sie nun einigermaßen halbherzig für das sozialistische Erbe zu retten versucht. In einem Stukko aus dem Jahr 1919, Der Blinde und der Lahme, beispielsweise, wo eben jener Blinde einen Lahmen schleppt, fühlt er sich an die Gewerkschaften erinnert, die 1919 die sozialdemokratische Partei schleppten.

Aber kommen wir endlich zu dem Stück, das wir gestern gesehen haben. Schon der auf dem Plakat zitierte Satz vom armen Vetter Hans Iver hat neugierig gemacht. „Finden Sie nicht, daß niemand jemand als seines gleichen behandeln darf, ohne einen kleinen Mord zu begehen?“ Ein Stück, dessen Protagonist die Einsicht vertritt, daß man nur als Opfer sich an der Welt nicht versündigt und schuldig wird, das wäre immerhin eine Perspektive gewesen. Statt dessen eine Inszenierung von Fritz Marquardt, die nichts befragt und nichts behauptet, die aus der Düsternis des Bühnenbilds von Matthias Stein niemals heraustritt. Ein mißverstandener, holzschnitthafter Realismus, der dazu so borniert ist, Barlach selbst als Kronzeugen dafür im Programmheft zu zitieren. „Stilisierte Bühnenbilder? Da schauderts mir gelinde. Ich hätte die allergrößte Selbstverständlichkeit und Milieu- Echtheit gewünscht...“) Da war ja Leopold Jessner, der 1921 Barlachs Die echten Sedemunds in Berlin uraufführte, schon weiter. Den hatte Barlach noch persönlich durch Güstrow geführt, um ihn die Vorbilder für seine Bühnenfiguren studieren zu lassen. Was Jessner natürlich nicht verwandt hat. Und als dann der Zollwächter Sieg (Stefan Lisewski) als wilhelminisches Gespenst kostümiert die Bühne betritt, befällt einen der fürchterliche Verdacht, Marquardt könnte das Barlach-Stück am Ende als deutsch-deutsche Parabel inszeniert haben. Hans Iver (Hermann Beyer), der arme Vetter, als Ostler, und Siebenmark (Veit Schubert), der schließlich sogar die deutsche Währung im Namen führt, als sein westdeutsches Pendant. Und sagt es Iver schließlich nicht selbst, bevor er sich das Leben nimmt? „Rechtslinks, linksrechts — links ist für mich gerade so richtig wie rechts und rechts nicht besser als links... Aber wo läuft alles hin — mehr rechts— mehr links, das ist die Frage. Aber es muß ja nicht gelaufen sein, es gibt nicht rechts, es gibt nicht links mehr, Gott, ich danke dir, Gott, daß du das alles von mir losmachst.“ Er sagt es.

Ernst Barlach: Der arme Vetter. Regie: Fritz Marquardt, Bühne: Matthias Stein. Mit Hermann Beyer, Veit Schubert, Catherine Slogan u.a., Berliner Ensemble

Weitere Aufführungen: 21. und 29. Februar