Narbenlose Trauerarbeit

■ »Die Narben der Erinnerung« von Jorge Diaz in deutscher Erstaufführung

Es mag durchaus zweifelhaft sein, ob Trauer und Arbeit zusammengehen können; körperliche oder intellektuelle Arbeit derart mit Gefühl zu verketten, muß ungenügend bleiben, wo die Gradheit des Gefühls fehlt und auch durch eine Maßlosigkeit an unsinnlichem Schuften in ihrer persönlichen Intensität nicht ersetzt wird. In jedem Fall soll ein aktives Agieren beizeiten und im rechten Augenblick durch ein nachträgliches Zuviel an Analyse aufgearbeitet werden. Der moralische Zeigefinger ist dabei steil aufgerichtet, nachdem er zuvor lustvoll durch den Honig der Aufklärung gezogen wurde. Wehe dem, der sich dabei auf die Süße des Honig verläßt und sich darüber hinaus allzu katzenhaft gebärdet.

Eigentlich ist es nicht zu verstehen, warum das Maxim Gorki Theater darauf verfallen ist, die deutsche Erstaufführung von Jorge Diaz Die Narben der Erinnerung herauszubringen; oder aber es ist leider eben viel zu gut verstehen: das Stück mag von seiner Thematik her wie eine linke Faust auf dem rechten Auge der — alten und der neuen — Bourgeoise drücken, doch zu einem veritablen Gefecht mit ernstzunehmender Wirkung wird dieses harmlose Zwei- Personenstück nicht.

Im Gegenteil: je länger es fortschreitet, um so mehr vernebelt das Stück den großen Ansatz, zwischen Zimmerschlacht-Ehe und Politthriller der Francozeit zu oszillieren, zugunsten einer müden Neuauflage der Einsicht, daß in allen Revoluzzern schon der Bourgeois im Keime schläft und alsbald erwacht. Wieso gerade dieses Stück des gebürtigen Argentiniers, der seine Jugend in Chile verbrachte und heute in Spanien lebt, mit dem Tirso-de-Molina- Preis ausgezeichnet wurde, bleibt schleierhaft.

Es soll wohl gezeigt werden, wie einstige Revolutionäre allmählich der Selbsttäuschung und dem Wohlstand erlegen, den Idealen kräftig nach Kleinbürger-Art in den breit gewordenen Hintern treten — aber auf der Bühne ereignet sich nicht viel mehr als das müde Abschiedsgefecht einer aufgebrauchten Ehe. Da plagen sich zwei Beziehungspartner, die sich einst gegen das faschistische Franco-Regime gemeinsam verbündet hatten. Doch der Kampf mit dem rechten Establishment ist nur Hintergrund für eine Eheanbahnung, an deren Ende allein der fortgelaufene Sproß einen oberflächlichen Zusammenhalt gewährleistet.

Der Plot beschreibt keine Entwicklung, in die Zerrüttung sind kleine Rückblenden und Monologe eingelassen, die äußerst skizzenhaft immer wieder nur zeigen, daß im Grunde nicht viel zu machen war. Jeder hatte von Anfang an den Kompromiß im Blut. Er ist ein Kind der Kohlenknappheit, das entstand, weil die proletarischen Eltern mangels Geld und Attraktionen früh ins Bett gingen.

Das treibt das Karrierebedürfnis des Sohnes über Gebühr an und steigert sich derart heftig zu einer kruden Karrieregeilheit, daß er schließlich seiner Angetrauten den Flirt mit einem Nebenbuhler anrät, von dem er sich Einfluß und Fortkommen verspricht. Und sie? Eine immer gut gekleidete Faschisten-Tochter, die sich die linke Gesinnung beim Studium aneignet, das gleichwohl der Vater finanziert.

Ein Dialog der kleinen feinsinig gemeinten Anspielungen, oft dürftig, selten wirklich bissig: Allzu eng gezogen ist die Metaphernfolge, die aus papierenen Sätzen blubbert. Der aufgeweckte, überlegene Zuschauer darf sicher sein, daß, wo immer von einer klemmenden Tür gesprochen wird, mit absoluter Sicherheit der Bezug auf das politisch verklemmte Spanien gemeint ist und für die sich weniger überlegen fühlenden Beobachter klingt der Vergleich nicht nur an, sondern wird auch gewiß bis zur völligen Geheimnislosigkeit breitgetreten und ausgesprochen.

Jenny Gr|llmann und Ulrich Anschütz haben alle Mühe, der Enge der Dramaturgie und der klischeehaften Figurenzeichnung Leben zu verschaffen. Das langweilige Arrangement von Regisseur Karl Gassauer steht ihnen dabei nur wenig hilfreich zur Seite. Es macht dann fast schon wütend: Radikalität und zerstörte Hoffnungen ins biedere Kleid zu stecken, desavouiert das Unternehmen der Aufarbeitung selbst und vermeidet jeden kleinen Seitenhieb auf die Wirklichkeit mehr; als ein Seufzen bleibt nicht zurück. Da hilft kein Schreien, kein zynisches Parlando, kein melancholischer Lichtwechsel und keine musikalische Reminiszenz an die Musik der Sechziger — die Sache bleibt betulich, oberflächlich, ohne Trauerarbeit und — schlimm für die Sache, schlimm fürs Theater — ohne jede Gefühlswahrheit.

So einfach ist Aufarbeitung nicht zu haben. Hier findet am falschen Ort Boulevardtheater statt, das gute Schauspieler zur Plattitüde zwingt. »Das Theater ist Zeugnis, Bewußtseinsnahme, und in einigen Fällen Agitation. Niemals wird das Theater neutral sein, apolitisch. Selbst wenn ein Werk nur eine kleine, scheinbar private Geschichte erzählt, steht sie in einem Kontext, und ihre Perspektive ist entweder revolutionär oder nicht« — das sind die Worte Jorge Diaz, sie stehen im Programmheft wie ein schlechtes Alibi und eine unfreiwillige (?) Verurteilung des angestrengten Unternehmens: neutraler, leerer, nichtssagender ist derartiges wohl kaum zu haben. Flotte Sprüche und ernsthafte Schauspieler ersetzen leider fehlenden Tiefsinn nicht. Das immerhin war hier zu lernen. baal