: Sehen »ohne einen Kloß im Hals«
■ Die Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« und ihr Rahmenprogramm brechen alle Besucherrekorde/ Eine neugierige junge Generation will die Juden nicht nur als Opfer sehen
Andreas Nachama, Leiter der Ausstellung »Jüdische Lebenswelten«, traute seinen Augen nicht, als er vergangene Woche die Volkshochschule in Potsdam betrat, um einen Vortrag über Gebetsmusik zu halten. Statt den erwarteten fünf erschienen 60 Zuhörer, 30 mehr als Stühle vorhanden waren. »Unglaublich«, staunte er.
Er hätte es eigentlich ahnen müssen. Die »Jüdischen Lebenswelten« und ihr umfangreiches Rahmenprogramm sind Stadtgespräch, im Blätterwald rauscht es, und der Judaistik- Buchmarkt boomt. Als Nachamas Vater Estrongo, Kantor der Jüdischen Gemeinde, ein Konzert mit synagogaler Musik in der Ostberliner Synagoge in der Rykestraße gab, drängelten sich vor den Einlaßtoren Hunderte von abgewiesenen Interessenten. Das Konzert war schon eine Woche vor Beginn ausverkauft gewesen. Der Andrang war so groß, daß die Veranstalter schließlich kapitulierten. Sie ließen die Menschen einfach hereinströmen, verzichteten auf Kartenkontrolle und Leibesvisitation. »Es ist ergreifend«, meinte ein Mitglied des Gemeindevorstands, »daß die Synagoge endlich mal wieder richtig voll ist«.
Schon lang vorher ausgebucht waren auch sämtliche Klezmer-Konzerte, und zwar gleichgültig, ob die in Berlin bekannte Gruppe »Brave Old World« auftrat oder die greisen Epstein-Brothers aus Florida, die hier ein mit Standing ovations bedachtes Europadebüt gaben. Der Andrang zu allen Veranstaltungen, ob jiddische Filme oder Theater, ob Vortrag oder Symposium, Musik oder literarische Lesung, ist gewaltig. Selbst der Schriftsteller Edgar Hilsenrath, der seit Jahren in Kreuzberg lebt und deshalb des öfteren zu hören ist, bekam das Interesse hautnah zu spüren. Das Literaturhaus in der Fasanenstraße war so voll, daß sämtliche Stühle herausgeräumt werden mußten, die Besucher setzten sich dicht um Hilsenrath herum auf den Boden.
Und alle Besucherrekorde brechen wird vermutlich die vor drei Wochen eröffnete prächtige Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Bis jetzt haben sie rund 60.000 Menschen gesehen. Hält das Interesse gleichbleibend an, dann werden es am letzten Tag 350.000 sein, das wären 70.000 mehr als vor zwölf Jahren bei der Preußenschau. Und deren Besucherzahlen galten bisher als unübertreffbar. Ausgebucht sind bis Anfang März die regulären Führungen, die Festspielleitung hat jetzt zusätzlich Judaistik-Studenten für außerordentliche Führungen angestellt. Am letzten Sonntagmorgen mußte die Ausstellung wegen »Überfüllung« zeitweilig sogar geschlossen werden. Viele Besucher, weiß die Pressesprecherin Susanne Stähr, kommen mehrmals, nehmen sich nur einzelne Kabinette vor und lesen zu Hause Informationen nach. In den Buchhandlungen ist die erste Auflage des dickleibigen Katalogs und des anspruchsvollen Essaybandes schon vergriffen, die kartonierte Sonderausgabe für den Gropius-Bau wird derzeit nachgedruckt.
Die gewaltige Resonanz überrascht selbst die Ausstellungsmacher. Andreas Nachama will aber diesen Erfolg nicht alleine auf das Konto seines und Gereon Sievernichs Konzept schieben. Dieselbe Ausstellung wäre vor zehn Jahren nicht möglich gewesen und auch nicht in einem anderen Land, meint er, sie stehe in einem engen Zusammenhang mit dem Lernprozeß der achtziger Jahre. Heute gehe es vor allem den jungen Leuten nicht nur um eine »Bewältigung des Holocausts«, sondern auch darum zu erfahren, »was jüdische Lebenswelten sind, und was alles kaputt gemacht worden ist«. Abraham Peck, stellvertretender Direktor der American Jewish Archiv in Cincinnatti und Beirat des Holocaust Museums in Washington, hält es sogar für möglich, daß diese Ausstellung eine neue »Wende« in Deutschland einleitet. Die 68er-Generation habe ihren Eltern und Lehrern die Schuld an der Ermordung der Juden vorgeworfen und keine Antwort auf die Frage nach dem »warum« erfahren. Sie habe die Juden nur als »Opfer« sehen können. Die neue Generation hingegen wird vielleicht über diese »Eindimensionalität« hinausgehen und ihren Eltern vorwerfen, daß sie ihnen das Judentum nicht erklärt haben. Sie habe die Chance, »den Begriff Jude zu ex- exotisieren«.
Sabine Eilert, 27, Schülerin des Berlin-Kolleges, sitzt erschöpft in der Caféteria. Stundenlang ist sie durch die Ausstellung gegangen. Als ob sie bei dem Gespräch mit Nachama und Peck dabeigewesen wäre, spinnt sie deren Gedankenfaden weiter. Sie habe sehr viel über den Nationalsozialismus gelesen, habe Auschwitz gesehen, aber über das Judentum selbst überhaupt nichts gewußt, sagt sie. Gegenüber Juden sei sie bis zur Sprachlosigkeit immer befangen gewesen, »alle Fragen kamen mir unangemessen vor«. Deshalb habe sie sich bisher nicht getraut, Veranstaltungen in der Jüdischen Gemeinde zu besuchen. Da war eine »Riesendistanz«, sagt sie, »die kam mir immer exklusiv und ich mir so ohnmächtig vor«. Sie ist froh über den Besucherandrang. Diese Ausstellung sei endlich mal eine, in die man »ohne einen Kloß im Halse gehen kann«, und die deshalb eine ganz neue Blickrichtung auf das Judentum zuläßt, »eine, die Fragen ermöglicht«.
Glaubt man dem in der Caféteria ausgelegtem Besucherbuch, steht Sabine Eilert mit ihrem Optimismus nicht alleine da. Selbstverständlich sind dort auch die Stereotypen wie »die Juden behandeln die Palästinenser genauso wie die Nazis die Juden« zu finden, aber es überwiegen die Eintragungen von Besuchern, die die Ausstellung als einen »Beitrag zur deutsch-jüdischen Verständigung« begreifen. Ein Lyriker aus Westfalen fühlte sich in Anbetracht der vielen Zeugnisse christlich-jüdischer Symbiose gar zu einem Witz ermuntert: »Geht Salomon zum Rabbi und fragt: ‘Darf ich eine Christin heiraten?‚ ‘Nein‚, sagt der Rabbi. ‘Warum nicht?‚, fragt Salomon, ‘du hast ja auch eine Christin geheiratet‚. ‘Ja‚, antwortet der Rabbi, ‘ich habe auch nicht gefragt‚.« Anita Kugler
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