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Nicht nur zur Weihnachtszeit

■ Die Obdachloseninitiative »Unter Druck« zeigte ihr Theaterstück ohne Titel/ Witz und Ironie in der Kreuzberger Naunynritze

Der Spielraum in dem Jugend- und Nachbarschaftstreffpunkt Naunynritze erinnert an ein Klassenzimmer — große Fenster, harte Stühle, es riecht etwas muffelig. Das Interesse an dem Theaterstück ist groß, unter den zahlreichen Besuchern sind einige Zeitungsschreiber, der RIAS schneidet mit, eine Kamera surrt für das Fernsehen. Es ist ja auch ungewöhnlich, daß Obdachlose einen Verein gründen mit dem Ziel der »Kunst-, Kultur- und Wohlfahrtspflege«. »In Zusammenarbeit mit Künstlern und im sozialen Bereich Beschäftigten«, heißt es weiter in der Vereinssatzung, soll »gesellschaftlich Ausgegrenzten Arbeit und geeigneter Wohnraum mit Hilfe von Kultur- und Sozialprojekten« angeboten werden.

»Damit auch Sie nicht kulturlos durchs Leben gehen, liest Ihnen ein original Obdachloser sein Gedicht«, steht auf einem Plakat aus Pappe, das an der Wand hängt. Geballte Ironie auch auf dem einzigen Requisit der Spielfläche, einem übergroßen Karton einer bekannten Zuckerware: »Mann, sind die Dickmann«, höhnt es dem Zuschauer entgegen.

Das Theaterstück ohne Titel beginnt mit einer langen Pause, dann scheppert ein Weihnachtslied aus einem kleinen Casettenrecorder: Vom Himmel hoch, da komm ich her. Das ist eine Lüge, denn die frohe Botschaft von der Ankunft polnischer Mastgänse und wunderschöner Barbiepuppen mit sieben vollwaschbaren Perücken erreicht uns durch einen weiblichen Engel, der aus einer Kiste steigt. Unbeirrbar plappert die Konsumterroristin Werbespruch auf Werbespruch herunter, obwohl sie ahnen müßte, daß es auf Erden für manch Menschenkind andere Probleme gibt als den Kauf rutschfester Nylonsocken und abwaschbarer Trockenhauben. Wie in einer griechischen Tragödie taucht da ein Weiser auf, der das Publikum mahnt, die Unterdrückten nicht zu vergessen. Der Mann ist laut, wütend, aber das Engelweib spult unbeeindruckt mit honigweicher Stimme die Lockungen käuflichen Glücks runter.

Das zweite Bild des Theaterstücks zeigt einen Streit zwischen Maria und ihrem Gemahl Josef. Die heilige Mutter ist nicht gerade jungfräulich zurückhaltend, vehement fordert sie eine Wohnung und etwas zu essen, zumal ein zirka 190 Pfund schwerer vollbärtiger Jesus in einem Einkaufswagen hockt und immer wieder »Hunger!« stöhnt. Josef ist ratlos, er versucht sich mit dem halbherzigen Trost: »Mein Alter wird das schon regeln.« Darauf will sich Maria dann doch lieber nicht verlassen: Denn »im Paradies haben nicht nur die Geschäfte geschlossen, auch die Sozialarbeiter feiern Weihnachten.« Außer »vielleicht einem Kebab aus der Mülltonne« wird es in den nächsten Tagen also nichts Eßbares geben, dafür beschimpfen einige Bürger die heilige Kleinfamilie: sie stinke, sei verdreckt und verplempere die Sozialhilfe.

Das Schicksal der drei Obdachlosen wendet sich auch im dritten Bild nicht zum Guten. Wir sehen zuerst einen Mann und eine Frau, die gemütlich gelangweilt vorm Fernseher sitzen. Da sie sich eh nichts zu sagen haben, verkleben sie sich konsequenterweise die Münder. Als endlich ein Wecker klingelt, es ist Zeit, sich gegenseitig zu beschenken. Stumm und völlig desinteressiert werden bunte Päckchen aufgerissen, deren Inhalt dem ihrer Schädel entspricht: nutzloses Gerümpel wird auf den Boden geworfen, dazu singt ein Chor das Lied Stille Nacht. Maria und Josef klopfen bei der Familie an, wollen um Hilfe bitten, aber je stärker sie anklopfen, desto lauter stellt der Hausherr die Weihnachtsmusik — die heilige Familie bleibt draußen vor der Tür. Der Weise vom Anfang tritt wieder auf, beklagt die heuchlerische Spendenwut in der Weihnachtszeit. Alle kriegen was ab, »sogar die Tierheime«. Der Bürger zeigt sein Sonntagslächeln, und »in den Läusepensionen haben die Läuse drei Tage Hausverbot.« Danach kommen sie aber garantiert wieder.

Ungewiß hingegen ist die Zukunft der Theatermacher. Während der fünfmonatigen Probearbeit ihres ersten Stückes Untergang stellte das Bezirksamt Mitte von Berlin für kurze Zeit den Obdachlosen Wohnraum zur Verfügung. Danach landeten sie wieder auf der Straße. Auch wenn es dem Verein »Unter Druck« gelingen sollte, ein Obdachlosen- Kulturhaus zu erstreiten — und die Chancen dafür stehen nicht schlecht —, wird die Anzahl von Obdachlosen in Berlin weiter ansteigen.

Mit ihrem Publikum gehen die Texter von Unter Druck recht gnädig um, ihre Waffen sind Witz und Ironie. Besonders Klaus Lenuweit ist es jedoch zuzutrauen, daß er ein aggressives Stück schreibt, daß zwingender die Not der Obdachlosen aufzeigt und die Zuschauer nicht in ein versöhnliches Lachen entläßt.

Ein Schauspieler von Unter Druck fehlt an diesem Abend, Joe, ein farbiger Obdachloser. Er hat im Advent einen Bolle-Laden kurz und klein geschlagen und ist seither verschwunden. Vielleicht ist Joe nur für einen Augenblick durchgedreht, vielleicht hat er vorher den Tom- Waits-Song Burma Shave gehört, der auch in der Naunynritze zum Schluß gespielt wird: »... they say that dreams are growing wild just this side of burma shave.« Viele Grüße an Joe. Werner

Wer das Theaterstück der Obdachloseninitiative Unter Druck in Schulen oder Gemeindezentren einladen möchte, wendet sich an K. D. Haupt, Kopenhagener Str. 21, O-1058 Berlin (Tel.: 3317523).

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