Die Gratwanderung

Johann Kresniks Choreographie über das Leben der Malerin Frida Kahlo  ■ Von Lore Kleinert

Ein großer schwarzer Bär schiebt ein rotes Bett diagonal über die Bühne, vorbei an uniformierten liegenden Männern: An toten Revolutionären Mexikos, die rasch verschwinden. Das eine der beiden Mädchen, das aus dem Kinderbett klettert, trägt eine mexikanische Totenmaske, und es balanciert und fällt, immer wieder. Das Kind Frida wird die Totenmaske abnehmen und der anderen weitergeben; es wird eine Beinschiene tragen, und die Frau Frida wird balancieren, ihr Leben lang. In seiner Choreographie über das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907 bis 1954) macht Johnann Kresnik die Gratwanderung, die vorsichtige Balance zur Schlüsselbewegung aller. Eltern, FreundInnen, Revolutionäre können zwar aus dieser Balance geraten, finden aber immer wieder zu ihr, zu Frida zurück.

Die junge Frida wird in den Gruppentanz gelockt, bei dem die TänzerInnen Sektgläser mit den Füßen, auf den Schultern oder zwischen den Knien tragen. Frida (Liliana Saldana) hält sie schließlich alle, und was sie verschüttet, füllt ihr Freund immer wieder auf. In vielfältigen Variationen kehren diese Bilder eines fragilen Gleichgewichts von Anstrengung und Leichtigkeit, von Scheitern und Neuanfang wieder. Auch wenn am Ende die gealterte Frida (Susana Ibanez) mit dem silbernen Stachelpflanzer durch eine Papiertür in einen hellerleuchteten Raum fällt und ihr rotes Bett in Flammen aufgeht; dann ist die Erde, die Diego aus dem Feuer klaubt, dennoch leicht und läßt an Leben denken. Als Frida Diego Rivera begegnet, dem zwanzig Jahre älteren Wandmaler, der sich immer wieder hoch auf sein Gerüst an der gelben Mauer zurückzieht, tanzt sie trotz Beinschiene und erobert den Mann, dessen bärenhafte Kraft mittels übergroßer blauer Arbeitshosen und riesiger schwerer Schuhe angedeutet und zugleich verspottet wird.

Nach der Kinderlähmung mit sechs Jahren wurde Frida Kahlo als Achtzehnjährige bei einem Unfall von Stangen durchbohrt und an Becken, Bein und Wirbelsäule schwer verletzt. Um ihre Qual bildhaft zu machen, greift Kresnik auf wenige, eindrucksvolle Zeichen zurück: Frida und ihr Alter ego (Amy Coleman) schweben wie aufgespießt auf riesigen Stangen. Während die eine langsam herausgetragen wird, lernt die andere, der die Stange vom Leib genommen wird, nach einem Tanz mit dem Tod, dem sie immer wieder begegnen wird, erneut zu balancieren — auf dem roten Bett, das die Gruppe quälend langsam kippt, aufrichtet und dreht. Kurt Schertziks Musik läßt dazu Schmerzensschreie und das Kreischen von Kreissägen aufheulen, und wenn Frida viel später das Bein amputiert wird, fährt eine reisenhafte Kreissäge langsam über sie hinweg und sprüht goldene Funken. Dann wieder hört man den Gesang und das Gurren von Vögeln oder beschwingte, mexikanisch inspirierte Chorgesänge, und Frida feiert Hochzeit mit Diego, der das rote Hochzeitskleid aus seiner Hose zieht. Vor dem Schatten einer Filmkamera begegnet sie im Traumland USA nicht etwa dem Klassenfeind, sondern der Marx-Brothers, Charly Chaplin mit Schraubenschlüssel, Micky Maus, Zorro und vielen anderen Kinolegenden. Zwei positive Dinge habe sie gelernt, sagte Frida Kahlo 1947, sie selbst zu bleiben und „die bittere Erkentnnise, daß nicht einmal viele Leben ausreichen würden, um alles zu malen, was ich möchte“. Sie versammelt all die Frauen in den farbenprächtigen mexikanischen Trachten um sich, die sie in ihren Bildern erschuf und die immer ihr Gesicht trugen.

In der Reihe seiner Frauenbiographien ist Kresniks Frida Kahlo am wenigstens Opfer, trotz der Kreissägen und Blutspuren als Zeichen ihrer 32 Operationen, trotz des Mannes, der sich anderen Frauen zuwendet, auch ihrer eigenen Schwester, trotz der Kinder, die sie abtreiben lassen mußte. Ein trauriges Bild: Fridas Füße stecken in blutigen Babypuppen, und sie versucht vergeblich, sie zu erreichen. Doch wenn sie schließlich das Blut von ihnen geleckt hat, streift sie sie ab und tanzt, und mit der blonden Schwester verknotet sie ihr Haar zu einem einzigen Zopf — und tanzt. Und wenn Diego Berge von Blüten auf das rote Krankenbett streut, in dem sie gefesselt liegt wie auf der Folterbank, und, wie immer zu schnell und zu wild, um das Bett tobt, dann lacht sie. „Ich necke den Tod und lache“, sagte sie, „damit er mich nicht so leicht unterkriegt.“

Kresnik findet gleichermaßen grelle und stille Bilder dafür, daß der Tod so nah war im Leben der Frida Kahlo, und daß deshalb ihre Liebe so heftig war und ihre Kraft so groß. Zwar tauchen im Tanz der Männer und Frauen Messer auf, doch sie verletzen nicht, sondern sind Requisiten des Spiels mit Rasierschaum. Zwar finden sich immer wieder Spuren von Blut auf den Menschen, auf Fridas Bein, dem einzigen roten Schuh, der sie hinken läßt, und blutige Schnüre verbinden sie mit ihrem Mann. Doch Fridas bunte Farben halten mühelos mit, im gelben Rahmen, der die Bühne einfaßt, und auf Diegos Wand tropft leuchtendes Blau.

Auch das Motiv der Verfielfachung seiner Hauptfigur nimmt Kresnik, wie bei Sylvia Plath oder Ulrike Meinhof, wieder auf. Doch Fridas drei Erscheinungen sind sich nahe; wenn sie einander folgen und sich betrachten, kommt nicht qualvolle Spannung auf, die nur gewaltsam gelöst werden kann, sondern eine ruhige Ahnung vom Reichtum des Lebens. Die Spiegel, in die die Frau auch diesmal wieder schaut, bleiben nicht blind, sondern werden zu ihren Bildern, zu Schöpfungen.

Daß Johann Kresnik im virtuosen Zusammenspiel von Gruppenchoreographie und Paarkonstellationen nicht nur vertraute Muster variiert, wird im Umgang mit der Politik besonders deutlich. Frida Kahlo und Diego Rivera gehörten der mexikanischen Linken und zeitweilig der kommunistischen Partei an. Das letzte Bild, das sie vor ihrem Tod malte, galt Stalin. Auf der Bühne entfalten Partygäste ein riesieges Seidentuch mit Hammer- und Sichelemblem. Immer schneller drehen sie sich damit im Kreis und pfeifen die Internationale, bis sie es, aufgerollt wie eine Verbindungsschnur, sich durch die Kleider ziehen, halb spielerisch, halb schon quälend. Später breiten sie es als Baldachin über Frida, die sich darin zusammenrollt wie in einen Kokon. Ihre Begegnung mit dem Theoretiker der Revolution Trotzki gehört zu den komischsten Passagen: Der bebrillte alte Mann (Harald Beutelstahl) platzt aus seinem Mantel, weil er mit Papierkugeln ausgestopft ist. Während die Partygäste sie auf der roten Fahne als Tafeldecke verspeisen und heftig würgen, steckt Frida sich die Botschaften in den Ausschnitt und lockt den Alten.

Kresnik bleibt ganz bei ihr, und er verzichtet darauf, Trotzkis blutiges Ende zu zeigen. Ebenso entzieht er sich der folkloristisches Faszination Mexikos. Sparsame Akztente machen Fridas Wurzeln in diesem Land kenntlich. Fridas letztes Kleid bei Eröffnung der Ausstellung ist zwar bunt, aber aus Papier. Wenn die Besucher ihr es in Fetzen heruntergerissen haben, bleibt der Blick auf das grell geschminkte, traurige Gesicht, die Krücken, das übrig gebliebene Bein mit der roten Stiefelette. Die letzte Eintragung in ihrem Tagebuch, 1954, lautet: „Ich will hoffen, daß ich den Abgang frohgestimmt erleben werde. Und hoffentlich komme ich nie mehr zurück.“ Kresniks stummes, bilderreiches Theater wird dem Leben einer Künstlerin gerecht, das so qualvoll und so froh gestimmt war wie ihr Ende. Er beutet dieses Leben nicht vampiristisch aus. Indem er es neu erfindet, läßt er es ihr.

Frida Kahlo , Choreographie: Johann Kresnik, Musik: Kurt Schwertzik, Ausstattung: Penelope Wehrli, Libretto: Irmgard Wierichs. Bremer Theater.