piwik no script img

Peking: Marktwirtschaft auf russisch

■ Immer mehr Russen reisen in Chinas Hauptstadt, um sich für den Handel in der Heimat einzudecken

Peking (ips) — Auf dem Yabaolu- Markt am Rande des Botschaftsviertels in Peking geht es hektisch zu. Der Handel mit Kleidern, Schuhen und Kolonialwaren aller Art blüht; allerorts werden zwischen Verkäufern und interessierten Kunden Taschenrechner mit den eingetippten Angeboten hin- und hergereicht. Unter die einheimische Kundschaft haben sich immer mehr Ausländer aus Osteuropa gemischt. Inwischen zählen die Russen, auch einige Ukrainer und Weißrussen, zu den wichtigsten Käufern. Sie sorgen dafür, daß sich die chinesischen Kleiderhändler nicht nur wegen der eisigkalten Außentemperaturen die Hände reiben können. Man kommt einander näher, auch wenn den Chinesen die Worte „reine Wolle“ auf russisch noch ein wenig schwer über die Lippen kommen.

Als erste Osteuropäer fielen die Polen in Pekings winterliche Märkte ein. Die „Getihu“, die selbständigen Händler, lernten schnell. Doch kaum beherrschten sie ein paar Brocken Polnisch, kamen schon Serben und Kroaten. Auch aus Rumänien sind in diesem Winter viele Käufer da. Der größte Teil der Kunden kommt jedoch aus Rußland.

Seit Juli letzten Jahres sei er bereits gut ein Dutzend Mal nach Peking geflogen, erzählt ein junger russischer Einkäufer. Jedes Mal nahm er 2.000 Jacken mit nach Hause. Die billigsten davon ersteht er auf dem Yabaolu-Markt für 15 US-Dollar. Zu Hause in Moskau kann er sie um das Dreifache weiterverkaufen.

Trotzdem werde das wahrscheinlich sein letzter Trip nach Peking sein, berichtet der Dreißigjährige. Aeroflot, die russische Fluglinie, hat die Ticketpreise einfach zu stark angehoben. 500 US-Dollar muß er jetzt für einen Hin- und Rückflug von Moskau nach Peking hinblättern. „Moskau ist ein einziger Abfallhaufen“, schimpft er über seine Heimatstadt, als er sich über die logistischen Probleme und die gestiegenen Kosten seiner Geschäfte ausläßt. Auf die Frage nach seinem Beruf folgt Stille, dann ein gequälter Blick: Assistenzprofessor für Ingenieurwesen sei er. Unter den nachmittäglichen Einkäufern befinden sich auch ein Manager einer Uhrenfabrik und ein Funktionär der Tourismusbehörde, beide aus Minsk. Ein ukrainischer Musiker ist auch da. Mehrere Aeroflot-Angestellte aus Moskau nutzen ihre Privilegien: Nach siebenjähriger Tätigkeit bei der Luftlinie bekommen sie Freitickets.

Ein einheimischer Händler hält einen Zettel hoch, auf dem er seinen Wunsch nach einer russischen Kameralinse bekanntmacht. Der Eishockeyspieler Andrey Broshkov kann ihm helfen, geht kurz in sein Hotel zurück und bringt dem chinesischen Händler das gewünschte Exemplar. Der Handel läuft hier in beide Richtungen. Die Russen bringen Uhren, Kameras und „Marlboro“-Zigaretten mit. Sogar „Lada“- Ersatzteile werden angeboten. Uhren mit Bush- und Gorbatschow-Porträts liegen neben alten kommunistischen Abzeichen und nicht ganz so alten Perestroika-Logos.

Den Behörden Pekings gefällt dieser informelle Handel gar nicht. So konnte man in den letzten Wochen auf Schildern in russisch erstmals lesen, daß Ausländern der Verkauf von Waren auf der Straße verboten ist. Die Festnahme eines Russen, der eine andere populäre Ware, Pekinesenwelpen, aus Moskau mitgebracht hatte, wurde im Fernsehen gezeigt. Die Tiere sind in Chinas Hauptstadt heißbegehrt, denn offiziell sind sie nicht zu kaufen.

In größerer Zahl tauchten die früheren Sowjetbürger erstmals im letzten Jahr auf den Märkten auf, als die Reisebeschränkungen fielen. Lukrativ war die weite Reise anfänglich nicht nur, weil die hier angebotenen Waren nicht nur in Moskau Mangelware sind. Im September hob Rußland auch alle Importzölle auf. Doch mittlerweile sind die Reisekosten so gestiegen, daß die Händler auch für eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn hart kalkulieren müssen.

Die russischen Händler haben auch noch mit einem anderen Problem zu kämpfen. Denn Gangster aus der Heimat sind ebenfalls bereits nach Peking gelangt. Sergey Filianin, Reiseleiter aus der Ukraine, führt eine Gruppe von 16 Personen durch den Markt. Kommt so ein Gangster auf die Gruppe zu, erzählt Filianin, dann kennt er das Spielchen bereits: zehn Prozent des Geldes, das jeder aus der Reisegruppe bei sich trägt — und sie haben die nächsten drei Tage wieder Ruhe. Jeder gibt das Geld sofort, sagt der Ukrainer, denn die durch die Medien bekanntgewordenen brutalen Praktiken dieser Banden sind Drohung genug. Wer sich in Peking nicht kooperationswillig zeigt, muß damit rechnen, daß er bei seiner Rückkehr am Moskauer Flughafen oder Bahnhof bereits erwartet wird. Erfahrene Einkäufer aus Moskau machten mühelos fünf bis sieben Gangster auf dem Yabaolu-Markt aus. Die schlanken, jungen Burschen mit kurzrasiertem Haarschnitt wandern gemächlich zwischen den Ständen hin und her, schauen sich ab und zu eine Ware näher an. Probleme bereiten sie nur den Russen. Chinesen oder andere Ausländer bleiben unbehelligt.

Aber auch sie schrecken Filianin nicht davon ab, wieder nach Peking zu kommen. Jeder aus seiner Gruppe werde an der Reise netto etwa 500 US-Dollar verdienen, erzählt er. Und das ist immerhin das Zehnfache ihres durchschnittlichen Monatslohns in der Heimat. Deirdre Godfrey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen