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Sind Gymnasien die Hauptschulen der Nation?

■ Das Gymnasium »verproletarisiere« und verliere an Qualität, klagen die Anhänger einer versteckten Elite-Konzeption, hinter der vor allem eine Ausgrenzung ärmerer Schüler durchscheint/ Steckt hinter dem Problem nur die Unfähigkeit der Gymnasien, sich auf neue Anforderungen einzustellen?

Berlin. Es gibt Themen, die zwar nicht neu sind, aber alle Jahre wieder von den Medien neu aufgekocht werden. Die »Krise des deutschen Gymnasiums« ist ein solches Thema. Seit der Schulreform der sechziger Jahre, als sich die SozialdemokratInnen für die Zugänglichkeit der Gymnasien auch für benachteiligte Gruppen — zum Beispiel Mädchen oder Arbeiterkinder — einsetzten, wird diese Öffnung kritisiert. Das Gymnasium drohe, so das Hauptargument, durch den zunehmenden Andrang an Niveau zu verlieren. Natürlich sind es stets die Kinder der anderen, die das Gymnasium besuchen, ohne dies zu verdienen. Würde es heute kaum noch jemandf wagen, das Recht der Mädchen auf gymnasiale Bildung in Frage zu stellen (deren Ausgrenzung findet er auf universitärer beziehungsweise beruflicher Ebene statt), wird immer wieder mal nachgefragt, ob denn all die Arbeiterkinder wirklich auf das Gymnasium gehören. Manche Kritiker scheuen selbst vor dem Argument nicht zurück, daß doch schließlich, zum Beispiel im Baugewerbe, noch freie Lehrstellen zu besetzen seien. An die eigenen Kinder denken sie bei dieser Option wohl kaum.

Dabei entbehrt die Behauptung, das Gymnasium verkomme zur »Hauptschule der Nation« (so neulich der Titel eines 'ZEIT‘-Artikels) jeder statistischen Grundlage. Nur für Beamtenkinder ist das Gymnasium die Hauptschule: Von denen strebt mittlerweile jedes zweite das Abitur an. Ein Ansturm von Arbeiterkindern ist bisher ausgeblieben: Von hundert finden gerade einmal elf den Weg aufs Gymnasium, obwohl 29 Prozent der Arbeiterkinder von der Grundschule eine Gymnasialempfehlung bekommen. Die soziale Selektion greift nach wie vor und spiegelt sich unter anderem in der Verteilung der verschiedenen Schultypen auf die Westberliner Bezirke wider. So hat der traditionelle Arbeiterbezirk Kreuzberg zwar sechs Hauptschulen, jedoch nur drei Gymnasien. Im Wedding kommen auf fünf Hauptschulen vier Gymnasien. In den vergleichsweise reichen und bürgerlichen Bezirken Zehlendorf und Wilmersdorf dagegen, stehen je einer Hauptschule fünf beziehungsweise sechs Gymnasien gegenüber.

Für die vielzitierte Überfüllung der Gymnasien sorgen also vor allem die Töchter und Söhne von Angestellten und StaatsdienerInnen. Diese werden freiwillig wohl kaum auf die höhere Bildung für ihre Kinder verzichten. Wer verschärfte Zugangsbeschränkungen fordert, riskiert damit jedoch vor allem eine noch stärkere Ausgrenzung von Kindern aus weniger finanzstarken Familien. Denn mit dem nötigen Kleingeld lassen sich (siehe Japan) auch schon kleinere Kinder in den entsprechenden Privateinrichtungen zu Leistungsträgern heranzüchten. Der Gedanke, dem Gymnasium die alte Elitefunktion zurückzugeben und — sozusagen zur Entlastung — eine weitere Schulform zwischen Realschule und Gymnasium einzurichten, scheint ebenfalls mehr als fragwürdig — es bedarf wenig Phantasie, sich vorzustellen, wie die soziale Zusammensetzung dann wohl auf diesen, von der Masse befreiten, Eliteschulen aussehen würde. Die beiden Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm und Hans-Günter Rolff stellten Anfang 89 fest, daß es bereits Ansätze gibt, die Gleicheren von den Gleichen zu trennen: Einer davon beruht darauf, daß nicht alle Gymnasien einen gleich guten Ruf haben. Deshalb können sich die, die ein besonderes Prestige besitzen (zum Beispiel viele altehrwürdige altsprachliche Gymnasien), ihren Neuzugang aussuchen. Bei dieser Auswahl muß nicht unbedingt der Notendurchschnitt des Kindes das ausschlaggebende Kriterium sein. Der Sohn des »Herrn Professor« wird dort — vor allem in kleineren Städten — auch dann genommen, wenn er mit einem Dreierzeugnis vorspricht. Dazu gehören auch Schulen mit einem zweisprachlichen Profil, wie zum Beispiel das Französische Gymnasium in Tiergarten. Eine weitere Möglichkeit bieten natürlich die Privatschulen. In Rheinland-Pfalz gibt es zur Zeit sogar den Versuch, durch die Einführung sogenannter D-Zug- Klassen, die das Gymnasium in acht statt neun Jahren durchlaufen sollen, innerhalb der Schule zu sortieren. Klemm und Rolff sprechen angesichts all dieser Differenzierungsversuche vom heimlichen Umbau der »höheren Etagen« »durch den Einbau von VIP-Salons«.

Von anderer Seite wird dagegen eingewandt, daß nicht die angebliche »Verproletarisierung« für den Abstieg der Gymnasien verantwortlich ist, sondern die Unfähigkeit der Lehranstalten, sich auf neue Anforderungen einzustellen. Eine Alternative wäre deshalb das Bemühen um neue Definitionen und Ansätze für das Gymnasium. Versuche, in diese Richtung zu denken, gibt es bereits. Der (Gast-)Berliner Pädagogikprofessor Rainer Winkel fordert eine deutliche Erweiterung des didaktischen Repertoires der LehrerInnen. Während einer Studie in mehreren Berliner Gymnasien machte er die Erfahrung, daß die LehrerInnen zwar fachlich allesamt sehr bewandert, auf dem Gebiet der Wissensvermittlung dagegen zum Teil wahre Nullnummern waren. Je nach den pädagogischen Fähigkeiten der LehrerInnen verhielt sich dann auch die Schulklasse. Dieselben SchülerInnen, die im Lateinunterricht noch konzentriert Grammatik geübt hatten und im Französischunterricht begeistert mitgegangen waren, honorierten die, vom Geschichtslehrer verbreitete, gepflegte Langeweile mit Desinteresse und gingen schließlich völlig im konfusen Chemieunterricht zum offenen Aufstand über. Winkel stellt fest, daß der lehrerzentrierte Frontalunterricht angesichts des Autoritätsverlustes der LehrerInnen, dann leicht im Chaos versinken kann, wenn sich das Charisma und die Begeisterungsfähigkeit letzterer in engen Grenzen halten. Er empfiehlt daher, alternative Unterrichtsmethoden, die sich an anderen Schultypen bereits bewährt haben, auch den GymnasiallehrerInnen nahezubringen. Die Konzentration der FachlehrerInnen auf die Inhaltsseite ist nach Winkel heutzutage auch an den Gymnasien schlichtweg überholt. Sonja Schock

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