: Kerosinbrände, Skylabs
■ Die Künstlerzeitschrift Pictor auf dem Floß der Medusa
Vom vierten Tage an verfielen alle noch Überlebenden dem Wahnsinn. Einige der Unglücksseligen versuchten, sich durch ihre eigenen Exkremente am Leben zu erhalten, oder sie verschlangen das Fleisch ihrer toten Gefährten.
Was der Marinearzt Savigny als einer der wenigen Überlebenden vom Schiffbruch der Fregatte „Medusa“ zu berichten hatte, versetzte die französische Öffentlichkeit des Jahres 1816 in helle Empörung. Hatte sich doch der mitreisende Gouverneur der Kolonie Senegal mit einem Rettungsboot davongemacht, während die meisten der anderen 150 Passagiere sich auf ein Floß retten mußten, ohne Nahrung, brusttief im Wasser stehend. Am Ende sollten nur zehn von ihnen die zwölftägige Strapaze überleben.
Winkende Schiffbrüchige in Marlboro-Rot
Drei Jahre später brachte Theodore Gericault jene Szenen, in der die Schiffbrüchigen das rettende Schiff entdeckten, auf die Leinwand. „Das Schiff der Medusa“ regte schon Peter Weiss zu langen Reflektionen in der „Ästhetik des Widerstandes“ an.
Jetzt ist es auch Thema der dritten Ausgabe der Bremer Künstlerzeitung Pictor. Begründet von den beiden Druckgrafik-Künstlern Jan Carstensen und Udo Reichwald, versucht Pictor die unterschiedlichen Darstellungsweisen von Bildender Kunst und Literatur in eine sich wechselseitig beeinflussende Engführung zu bringen. Ein Gewinn ist dabei die äußerst sorgfältige Gestaltung: Die Zeitung wird in 100er Auflage im manuellen Siebdruckverfahren hergestellt.
Sowohl AutorInnen als auch GrafikerInnen lösen sich von allzugroßer Nähe zum jeweiligen Thema der Ausgabe — in Nr.2 war es das Attentat auf J.F.Kennedy - indes auf gegenläufige Weise. Während die Grafik oftmals die Abstraktion bis zur Auflösung der Bildstrukturen vorantreibt, setzt sich in den Texten zuweilen ein Hang zum Mystischen durch. Knallhart und entlarvend nutzt Marion Bösen Werbegrafik und —text. Perfekt bis zur irreversiblen Verwechselung montiert sie so etwa in Nr. 2 die Bilder des Kennedy-Attentats in eine Reifenwerbung ein. In Nr. 3 treibt Bösen die Ironie auf die Spitze, indem sie Gericaults Bild grob rastert, den Ausschnitt der ins Nichts winkenden Schiffbrüchigen vergrößert und in Marlboro-Rot setzt. Titel: „Friendship without frontiers“.
Polaroidartige Bilder Andreas Brauns, Carstensens zeitgemäße Transformation der Medusa in ein (gedoppeltes) Skylab, ein gelungenes Gedicht von Armin Szegedi, das in kargen Worten die Floßsituation nachvollzieht und die abgedrehte Geschichte „Pegasus“ von Germar Grimsen (mit dem wunderschönen Schlußfluch: „und deine Seele, sie brennt mit ausgestreckten Kotlügeln in Kerosin“) gehören zu den Pluspunkten der neuen Pictor. Thomas Hoeps
Pictor. Auflage 100, 60 DM. Vertrieb: Große Annenstraße 97. 2800 Bremen 1.
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