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Seit zwei Jahren wird schon Tacheles geredet

Das Ostberliner „Kunst- und Kulturzentrum“ feierte Jubiläum/ „Aufgestanden aus Ruinen“ auf dem Weg zum Weltenruhm / „Der Zukunft zugewandt“, aber ein schwedischer Konzern will das Gelände aufkaufen  ■ Aus Berlin Ute Scheub

Schutt. Scherben. Bizarre Geländer, aus drahtigen Überresten zusammengeschweißt. Tanzende Fresken auf bröckelndem Putz. Teelichter flackern im Treppenhaus. Zum Kino „Angenehm“ führt ein bunter Zickzackpfeil. Hier wird, zu Ehren des heute zwei Jahre lang bestehenden „Kunst- und Kulturzentrums Tacheles“ im Ostberliner Bezirk Mitte, der Dokumentarfilm Aufgestanden aus Ruinen aufgeführt.

Das Kino ist das Leben, das Leben ist ein Kino. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ lautete die Nationalhymne noch, als die gigantische graue Ruine des 1908 eröffneten Passagenkaufhauses und späteren AEG-„Hauses der Technik“ zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße im Februar 1990 besetzt wurde. „Tacheles“ nannten die heute hier lebenden und arbeitenden 30 Ostler, 30 Westler und 40 internationalen Künstler ihr neues Kunstzentrum — in Erinnerung an die ehemals jiddisch sprechenden Bewohner der angrenzenden „Spandauer Vorstadt“. Tacheles: Klartext, offene Rede, offenes Haus. „Die Ideen sind ruiniert“, redet im Film eine Frau Tacheles, „die Ruine ist unsere Lebensweise.“ Die offene Ruine: Hier wachsen die Bäume aus dem obersten Stockwerk noch in den Himmel. Hier sind, als ob eine Familie von Riesen ihre Puppenstube aufgestellt hätte, manche Räume von Außenwänden entblößt: Der von der SED geschickte Abrißbagger hatte dort seine Zähne eingeschlagen. „Aufgestanden aus Ruinen“, inzwischen legalisiert und mit einer Million Mark Staatsknete winterfest gemacht: Das „Tacheles“ ist das schönste, das wildeste Haus von ganz Berlin.

Kemal aus der Türkei bearbeitet hier seine Skulpturen, die deutsche Jenny verfremdet Puppengesichter zu blutigen Fratzen, Peter und Paul kommen aus Australien, Rob aus Virginia fühlte sich nach zwei Tagen im „Tacheles“ wie zu Hause und glaubt, daß solch ein Projekt „selbst in New York unmöglich“ sei, „und auch in London“, ist ein Engländer überzeugt. Der Ruf des Hauses mit seinen Atelierräumen, Theater- und Musiksälen, der Galerie „Fleischwaren“, der Disco „Massengrab“ oder dem „Café Zapata“ ist inzwischen so weit verbreitet, daß die internationalen Künstler von selbst kommen. Jochen Sandig, Vorständler des inzwischen 45 ABM-Stellen umfassenden Trägervereins „Tacheles“, hat recht behalten: „Weltweit“ wolle man wirken, hatte er dereinst in die Filmkamera gelächelt.

Es lächelte auch Lovely Rita Süssmuth bei ihrem „Tacheles“-Besuch kurz vor der Ruinierung der DDR, im Gegensatz zu ihren verkniffenen Bonner Begleitbeamten. Rita vor wilden Wandgemälden, Rita im Ruinengebröckel. Die Ruine lebt, spannt mühelos den Bogen von der Vergangenheit zur Zukunft. Im Dachgeschoß, wo einstmal französische Kriegsgefangene der Nazis schuften mußten, hatte vor kurzem ein Antikriegsstück Premiere. In alte Decken gehüllt, im Kampf gegen die beißende Kälte von damals und heute, werden die Zuschauer selbst zu Akteuren.

Aber bleiben auch die „Tacheles“-Leute Akteure ihrer Zukunft? Das Grundstück an der zukünftigen Regierungsmagistrale Friedrichstraße, wo der Quadratmeterpreis schon bis zu 20.000 Mark kostet, will der schwedische Skanska-Konzern kaufen. Das „Tacheles“, das satte 30 bis 40 Millionen für seinen Ausbau benötigt und derzeit darüber mit Skanska verhandelt, muß zittern, ob es so bestehen bleiben darf: als Ruine.

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