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Neue Vorwürfe gegen Manfred Stolpe

Dokumente belegen: Brandenburgs Ministerpräsident hat die SED-Staatsführung über Aktivitäten der Opposition unterrichtet/ „Einflußnahme“ zur Verhinderung spektakulärer Aktionen  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) — Eine Karteikarte gibt es nicht, wohl aber eine Registriernummer: Der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) „Sekretär“ wurde unter dem Aktenzeichen „IV 1192/64“ geführt, der Vorgang demnach von der MfS-Bezirksverwaltung in Potsdam bearbeitet, seit 1964. „Sekretär“, so enthüllte am Donnerstag abend in der Berliner Zentrale der Gauck-Behörde der frühere Stasi-Oberst Joachim Wiegand (59), war der heutige Ministerpräsident in Brandenburg, Manfred Stolpe. Im Beisein des Potsdamer Justizministers Bräutigam und des Stellvertreters der Gauck- Behörde, Hans-Jörg Geiger, offenbarte der Stasi-Mann weiter, Stolpe sei seit Anfang der siebziger Jahre unter diesem Decknamen geführt worden — allerdings ohne dessen Wissen. Der frühere Konsistorialpräsident sei — so wie es auch im Fall des PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi vom früheren MfS-Mann Günter Lohr behauptet wird — unwissentlich, aber systematisch „abgeschöpft“ worden. Der „IM“-Status sei lediglich ein Konstrukt gewesen, um einerseits dem Konspirationswahn im Mielke-Ministerium Rechnung zu tragen, und andererseits, um eine nichtregistrierte umfassende Materialiensammlung anlegen zu können. Elf solcher Fälle soll es nach Wiegands Ausführungen im Umfeld der Kirchenführung gegeben haben: „Sonderkategorien“, bei denen die Betroffenen weder eingeweiht noch eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet hätten.

Stolpe gegen Aktengläubigkeit

Mit Blick auf die jüngsten Veröffentlichungen des 'Spiegels‘ und der 'Welt am Sonntag‘ erklärte gestern Brandenburgs Regierungssprecher Erhard Thomas: „Manfred Stolpe (ist) erstaunt, welcher Wahrheitsgehalt den Akten des SED-Staates zugebilligt wird.“ Beide Zeitungen veröffentlichten Dokumente, die unabhängig von der Frage, ob Stolpe wissentlich als Inoffizieller Mitarbeiter tätig war, den Ministerpräsidenten schwer belasten. Stolpe hat dem 'Spiegel‘ zufolge nicht nur über Kirchensynoden und vertrauliche Sitzungen der Kirchenleitung, über Interna der brandenburgischen Kirche oder anläßlich der Gründung eines Kontaktausschusses „Kirche und SPD“ 1976 im westdeutschen Frankfurt über „negative Handlungen kirchlicher Personenkreise“ berichtet — im Auftrag des SED-Staates soll er auch versucht haben, Aktionen der Oppositionellen zu verhindern oder wenigstens mäßigend Einfluß auf sie zu nehmen.

Berichte über Pfarrer Eppelmann und geplante Demonstrationen

Anläßlich einer von Erich Honnecker offiziell in Ost-Berlin empfangenen Grünen-Delegation planten Bürgerrechtler der DDR Ende 1983, vor den Botschaften der UdSSR und den USA zu demonstrieren, sie wollten Abrüstungsappelle überreichen. Ausweislich der zitierten Stasi-Unterlagen aus der Hauptabteilung XX wurde Stolpe in diesem Zusammenhang zu einem Treffen mit dem Hauptabteilungsleiter Peter Heinrich im Staatssekretariat für Kirchenfragen gebeten. Im Protokoll vom 2.11.83 hielt der Abteilungsleiter fest: „Auftragsgemäß führte Genosse Heinrich am 1.11. 1983 ein Gespräch mit Stolpe durch... Mit Hinweis darauf, daß Pfarrer Eppelmann in der Vergangenheit provokatorische Handlungen verschiedenster Art durchführte, forderte Genosse Heinrich den Stolpe auf, seinen gesamten Einfluß geltend zu machen... Daraufhin teilte Stolpe mit, daß durch die Grünen in Verbindung mit Pfarrer Eppelmann am 4.11.83 um 14 Uhr eine Aktion vor den Botschaften der UdSSR und USA geplant sei. Er werde den staatlichen Hinweis aufgreifen und Maßnahmen zur Disziplinierung des teilnehmenden Personenkreises veranlassen.“ Nach Heinrichs Aufzeichnungen teilte Stolpe telefonisch am gleichen Tag spät abends mit, „daß er eine inhaltsschwere Auseinandersetzung mit Eppelmann hatte. Er versicherte, daß im Ergebnis dieser Auseinandersetzung der Einfluß der Kirche weiter geltend gemacht wird... Stolpe fühle sich als Dolmetscher, der weiter Einfluß auf die geplante Aktion nimmt, damit es zu keinen spektakulären Handlungen kommt.“

Deutlich distanzierende Worte über den Kirchenkollegen und Oppositionellen Eppelmann finden sich dem Magazin zufolge auch in anderen Stasi-Unterlagen wieder. In einem Bericht über die Synode des Kirchenbundes soll Stolpe 1982 Eppelmann als „Krawallmacher“ beschimpft haben — wesentlich härter noch ging er ausweislich eines vom 'Spiegel‘ und der 'Welt am Sonntag‘ zitierten Berichtes des stellvertretenden Ostberliner Oberbürgermeisters Günter Hoffmann mit anderen Dissidenten ins Gericht.

„Hartes“ Durchgreifen gerechtfertigt

Anläßlich der Verhaftungswelle nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 vermerkte Hoffmann eineinhalb Jahre vor dem Ende des SED-Regimes: „Stolpe erklärte, daß er ein ,hartes‘ staatliches Reagieren für richtig und gerechtfertigt halte... Stolpe charakterisierte den o.g. Personenkreis als ,am Rande des Terrorismus stehend‘.“ Rainer Eppelmann, der sich in den letzten Wochen ausdrücklich hinter den der Stasi-Mitarbeit verdächtigten Brandenburger Ministerpräsidenten gestellt hatte, ging nach den neuen Vorwürfen auf Distanz. In einem Rundfunkinterview erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete, sollten sich die Meldungen bewahrheiten, wonach Stolpe der Stasi Aktionen systemkritischer Pfarrer vorab mitgeteilt habe, dann stelle dies einen Vertrauensbruch dar. Vorsichtig formuliert, forderte Eppelmann für diesen Fall den Rücktritt, Stolpe müsse dann über „Konsequenzen“ nachdenken.

Sein Amt will Stolpe aber keinesfalls aufgeben. Die zitierten Gesprächsvermerke seien ein Beispiel dafür, „wie wenig die Darstellung in Akten staatlicher Stellen in der DDR mit dem wirklichen Leben übereinstimmt“. Anlaß für das Gespräch mit dem SED-Funktionär Hoffmann sei am 28. März 88 der brutale Einsatz der Polizei gegen Gottesdienstbesucher zwei Tage zuvor gewesen. An diesem Tag sei die Grundlage für die Formel „Kirche im Sozialismus“ zerbrochen. Hoffmann habe in seinem Protokoll offensichtlich versucht, diesen Bruch mit einer „Erfolgsmeldung“ über das Treffen zu kitten. Die Methode, „eigene Aussagen den Gesprächspartnern zu unterstellen“, sei allen Kennern der DDR- Bürokratie bekannt.

Dem 'Spiegel‘ warf Stolpe vor, mit der Veröffentlichung von Aktenauszügen „potentielles Unrecht“ zu begehen. Das Magazin überschreite die Grenze der Aufklärung zugunsten des Sensationswertes; damit die Aktenkopien in die Hände der zuständigen Behörden gelangen, prüfen nach Stolpes Worten seine Juristen zur Zeit rechtliche Schritte.

Der Oppositionsführer im Potsdamer Landtag und letzte Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, verwarf am Samstag Stolpes und Bräutigams Erklärungen. Diestel, als DDR-Innenminister wegen seiner zögerlichen Haltung bei der Stasi-Auflösung heftig gescholten, bestritt generell, daß es langjährige Inoffizielle Mitarbeiter gegeben hat, die von ihrer Tätigkeit nichts gewußt haben. Der CDU-Mann nutzte die Gelegenheit, eine Rehabilitierung seines Parteifreundes Lothar de Maizière als „überfällig“ zu fordern. Im Gegensatz zu Stolpe habe sich dieser nur nicht verteidigt, die Offenlegung der Stasi-Akten habe „absolut nichts Belastendes“ erbracht — mit de Maizière sei einer „der verdienstvollsten Männer geschlachtet worden“.

Sollte sich bewahrheiten, was Brandenburgs Justizminister Bräutigam im Anschluß an die Unterredung mit dem Stasi-Mann Wiegand sagte, bricht ein ganzes Erklärungsgebäude zusammen. Jeder zehnte der in den Akten der Kirchenabteilung als IM geführten Personen wäre demnach ohne oder sogar gegen seinen Willen als „Inoffizieller“ des Mielke-Ministeriums geführt worden. Weil die Akten der Inoffiziellen Mitarbeiter aber vernichtet wurden, ist der konkrete Nachweis einer IM- Tätigkeit kaum noch möglich — die Aussage der Stasi-Akten mithin generell in Frage gestellt.

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