: Mystiker mit Berliner Witz
■ Im Vorfeld des Kolloquiums »Gershom Scholem — Zwischen den Disziplinen«: Ein Vortrag über den Religionswissenschaftler, Kabbala-Forscher und Benjamin-Freund
Unflätig im Benehmen, aber brillant«, so beurteilte der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig 1921 den Studenten Gerhard (Gershom) Scholem, der sein Seminar am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main belegt hatte. Sechzig Jahre später, 1981, gewann das Berliner Wissenschaftskolleg den mittlerweile weltberühmten Kabbala-Forscher Scholem als ersten Fellow, der so dem 1980 gegründeten »Institut for Advanced Study« zu Beachtung und Rang verhalf. Das Wissenschaftskolleg verstand sich von Anfang an als Mittler zwischen gewaltsam getrenntem deutschem und jüdischem Geistesleben. Gerade findet anläßlich des zehnten Todestages von Gershom Scholem der 6. Internationale Kongreß zur Geschichte der Jüdischen Mystik Gershom Scholem — Major Trends in Jewish Mysticism — 50 Years after statt. Einführend sprach Prof. R.J. Zwi Werblowsky aus Jerusalem im Schloß Glienecke über die Unterschiede von Mystik und Messianismus. — Gershom Scholems Frage, wie das Judentum heute mit dem Messianismus und dem mystischen Messianismus leben könne, schien dem Referenten weniger verlockend als ein akademischer Überblick zum mystischen und prophetischen Religionstyp. Mystik, so der Experte, sei sowieso kaum zu definieren; gerade der unmittelbaren, innerlichen Erfahrung von Gott könne man mystischen Charakter sicher zuschreiben.
Gershom Scholem ist in unseren Breiten eher als Freund und Förderer Walter Benjamins denn als Religionswissenschaftler bekannt, der die jüdische Mystik erstmals als historisches Phänomen beschrieb. Scholem entstammte einer wohlsituierten, assimilierten Berliner jüdischen Familie. Schon 1912, mit fünfzehn Jahren, engagierte er sich in der zionistischen Jugendgruppe »Jung Juda«, die in einem Café am Bahnhof Tiergarten tagte. In dieser Zeit begann Scholem mit dem Studium des Hebräischen und der britischen und nachbiblischen Quellen. Bereits 1920 wußte er auch, daß er Deutschland verlassen würde: »Ich war nur ein Gast und wurde nur als Gast betrachtet.« Folgerichtig wanderte er 1923 aus nach Palästina. 1933 wurde Scholem an der Hebrew University of Jerusalem zum ersten Professor für Jüdische Mystik berufen. Mit der lang unterdrückten jüdisch-mystischen Tradition befaßte er sich seit dem Ersten Weltkrieg. Diese Mystik und die Kabbala wurde von den sich modern verstehenden Juden verschmäht: als ein Produkt des Mittelalters und System spekulativer Erkenntnisse (Philipp Bloch), als Abirrung und Weg zurück in geistige Dunkelheit. Zahlen- und Buchstabenmagie, Beschwörung von Engeln, selbst astrologische Elemente — die praktischen Bestandteile der Kabbala — und die Annahme einer Vielheit übersinnlicher Potenzen in der Entfaltung des Göttlichen widersprachen einem vernünftigem jüdischem Monotheismus. [Das ist einen bißchen kurz: Die Kabbala war ein getreues Abbild des Mikro- wie des Makrokosmos. Jeder aufgeschlossene Atomwissenschaftler oder Tiefenpsychologe würde seine helle Freude an dieser für damalige Verhältnisse revolutionären Erkenntnistheorie haben — d.S.] Für Gershom Scholem aber war die »Geheimlehre« so zeitgemäß und faszinierend, weil sie den geheimsten und innersten Gegenstand des Lebens beinhaltet, verschüttete positive Schubkräfte, spirituelle Inspirationen freisetzt angesichts des Scheiterns einer bloß rationalen Philosophie. In einem ähnlichen Zusammenhang können die Ansätze Walter Benjamins, Ernst Blochs und Paul Tillichs zu einer neuen Geschichtsphilosophie gesehen werden, die verdrängte utopisch-mystische Wurzeln fruchtbar zu machen sucht.
Das Hauptwerk Scholems Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen erschien erst 1957, sechzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in englischer Sprache, in deutscher Übersetzung. Die Jüdische Mystik stellt das Ergebnis eines zwanzig Jahre währenden Dialogs Gershom Scholems mit der Materie dar und vermittelt eine Analyse und Interpretation von Dokumenten des jüdisch- mystischen Schrifttums, darunter des Buches Sohar aus der Kabbala. 2.000 Jahre geistesgeschichtlicher Entwicklung von der Spätantike bis zur chassidischen Sektenbildung im 18. Jahrhundert, dazu die Merkaba- Mystik, verlieren unter Scholems innovativer Betrachtung ihren beargwöhnten Randstatus.
Die Forschergemeinde quält sich noch heute mit der Frage, ob Scholem selbst Kabbalist war. Er starb 1982 im Alter von vierundachtzig Jahren, ohne diese Frage beantwortet zu haben. Scholem war offenbar nicht nur ein »brillanter« Geist, auch seine Streitlust und sein Berliner Witz waren ebenso gefürchtet wie geschätzt: »Ich selbst fahre in drei Tagen in ein Dorf im Emek Jesreel, wo man sehr strikt marxistisch ist und von nichts anderem hören mag, und wo ich die Leute dialektisch aufziehen will und eine Reihe von drei Vorträgen halte über das Thema: Die Kabbala als revolutionierender Faktor in der jüdischen Geschichte. Am Schluß werden wir uns zanken«, schrieb er am 1.3.37 in einem Brief an Walter Benjamin. Nach Werblowskys etwas betulichen Ausführungen sah es im Saal allerdings nicht gerade nach Zank aus.
Scholems Bruder wurde im KZ Buchenwald ermordet, seine Mutter emigrierte gerade noch rechtzeitig nach Australien. Fania Scholem, seine Frau, kam, obwohl ihr die Reise schwergefallen sein muß, zu diesem Kongreß nach Berlin. Anke Westphal, Thomas Fitzel
Das Kolloquium findet vom 19. bis 21. Februar im Konferenzraum des Martin-Gropius-Baus, Stresemannstr. 110 statt. Nähere Informationen siehe Veranstaltungskalender oder Tel.: 8382746.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen