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Karajan hatte doch recht

■ Ein Abend mit Kompositions-Stipendiaten im Kammermusiksaal der Philharmonie

Es gebe weltweit wohl kaum mehr als vier Musiker, die in der Lage sind, Partituren Neuer Musik zu lesen, hatte Karajan einst lauthals gemutmaßt. Karajan ist tot, und die Meinung hat sich geändert: die Jury der Kompositions-Senatsstipendien 1991, so lautet das offene Geheimnis, wählte die Stipendiaten aus Zeitgründen nur anhand der Partituren aus. Die mitgesandten Bänder wurden gar nicht angehört.

Ob Karajan nun recht hatte oder nicht, sollte sich letzten Freitag im Kammermusiksaal der Philharmonie entscheiden, wo in einem über dreistündigen Marathon-Konzert die Kompositionen der ausgewählten Tonkünstler vom Scharoun-Ensemble und von attacca berlin vorgestellt wurden.

Konstantia Gourzi leitet das attacca berlin, das im ersten Teil des Abends drei Stücke interpretierte. Weil sie auch eines der Stipendien erhalten hat, befand sie sich in der glücklichen Lage, ihr eigenes Stück vorstellen zu dürfen. In ihrer Komposition versucht sie, ihre »Gefühle beim Hören des 2.Satzes der Jupiter- Sinfonie von Mozart auszudrücken« — war bei der Stipendienvergabe doch eine thematischer Bezug der Kompositionsentwürfe zum Mozartjahr beigegeben. Ein belanglos-nettes Stücklein, das nichts riskiert, ist bei Gourzi herausgekommen — Mozart hat wohl mehr gefühlt.

Das Konzert eröffnet hatten sie und ihr Ensemble mit Differenzen (Fragmente einer Phantasie) ihres Kompositions-Lehrers Franz Martin Olbrisch. Dieser vernebelt Mozart- artiges mit Hilfe übertriebener Kontrapunkttechniken. Drei Streicher setzt er auf drei Emporen. Das haben Nono, Boulez und Cage im selben Saale bereits vollführt, also macht man das auch — und läßt sie recht einfältig mal diesen, mal jenen Ton vom Ensemble aufnehmen, bisweilen Eigenes beisteuern —, so plakativ-unmotiviert machten das nun doch weder Nono noch Cage oder Boulez. Heraus kam weniger Musik als postavantgardistischer Obstsalat.

Gestauchte Winkel von Helmut Oehring stopft ein paar Bläsern die Ausgänge ihrer Instrumente zu und macht wenig Musik damit. Im Programmheft gibt's zur Erklärung ein nettes Gedichtlein mit der vielsagenden Zeile: »Der Winkel: komatös aufgrund falsch angestellter Berechnungen«. Das trifft's.

Anfangen (: aufhören) für Solo- Bratsche von Peter Ablinger gab's noch zu hören, wobei der Titel täuschte. Ewig wiederholt sich ein Einzelton, durchsetzt von kleinen Ausflüchten oder variiert durch avancierte Spieltechniken mit dem Bogen vor oder hinter dem Steg, die schwach an Lachenmanns Werke aus den Siebzigern erinnern. So wirkte der repetierte Einzelton, als finge das Stück immer wieder an, nur aufhören wollte dieser für große Längen wohl allzubillige Effekt leider eben viel zu lange nicht.

Das Scharoun-Ensemble, nach dem Erbauer der Philharmonie benannt, stellte weitere fünf Kompositionen vor. Conrado del Rosario hatte sein Stück über einen irgendwo bei Mozart unvorbereitet eintretenden dissonanten Akkord konzipiert— eine für die Neue-Musik- Jury sicherlich überzeugende Idee, liebt man es doch in diesen Kreisen, die ganze Klassik mittels sieben Stil- atypischer Akkorde zur Revolution per se zu erklären. Del Rosarios Musik allerdings gehörte zu den drei zumindest handwerklich professionellen Kompositionen des Abends. Nur die Mozartsche Vorgabe scheint ihn, im Vergleich zu seinen sonstigen Werken, etwas eingeengt zu haben: sowohl seine sonst gern exponierten asiatisch inspirierten Melismen als auch seine geliebt-avancierten Klangeffekte waren nicht zu hören. Dafür besitzt er die äußerst seltene und kaum überzubewertende Tugend, sich kurz zu fassen.

Hirotoshi Kihara sorgte mit seinem Oktett Daskylos für die besten eineinhalb Minuten des Abends. Sie passierten zu Beginn seiner Komposition, als er in eine Pianissimo- Welt, die zudem mit überlangen, aber wohlaustarierten Pausen versehen war, sternschnuppenartig Partikel aus Mozarts Kleiner Nachtmusik aufblitzen ließ. Leider entpuppte sich der Beginn als Zufallstreffer, versackte das Stück doch urplötzlich in spätromantische Banalismen. Schade.

Orm Finnendahl steuerte eine Komposition namens deserts bei. Das sollte wohl eine Hommage an Edgar Vareses gleichnamiges Stück sein, obwohl Finnendahl im Begleittext erklärt, es ließe sich als verspätete Hommage an Cage und Nono deuten. Erstaunlich, daß er es nicht zudem noch Stockhausen gewidmet, vielleicht ein Motiv von Boulez aufgenommen und in memoriam Anton Webern geschrieben hat. Die Musik ist für Klarinette, Horn und Viola, die wieder mal auf den drei Emporen, räumlich weit voneinander getrennt, plaziert sind. Kompositionsprinzip ist eine aleatorische Kombinatorik, eine nicht vorausberechnete Ansammlung von Einzelphrasen: der Spieler darf sich aussuchen, was er wann spielen will. So stehen die Musiker da, spielen recht verloren ihre Phrasen, ohne daß eine Atmosphäre entstehen mag. Der Bemerkung des Komponisten, er habe bei der Überarbeitung des Stückes eine radikale Reduktion durchgeführt, bei der etwa 95 Prozent der Noten auf der Strecke blieben, bleibt nur hinzuzufügen: für eine Hommage an Nono oder Cage wäre wohl eine noch radikalere Reduktion nötig gewesen. Noch mal 95 Prozent.

Um russische Musik kommt man seit der Auflösung der Ostblockstaaten nicht mehr herum. Plötzlich hat der Westen entdeckt, daß es da neue Musik gibt, die trotz ihrer Zeitgenossenschaft noch salonfähig ist. So sind Schnittke und Sofia Gubaidulina die Renner der Saison. Gubaidulina hat bereits fürs Heidelberger Frauenmusik-Festival eine junge Komponistin namens Ekaterina Tschemberdschi lanciert. Selbige findet sich nun im Stipendien-Programm des Berliner Senats für Berliner Komponisten wieder, obwohl sie erst seit November 91 in dieser Stadt ansässig ist und die Jury-Entscheidung bereits im Sommer 91 war. Dieses Kunststück mache ihr einer nach! — die postmodern ausgefranste Musik lieber keiner.

Vor stark gelichteten Reihen (man konnte sich kaum des Eindrucks erwehren, daß die Komponisten, deren Stücke bereits gespielt worden waren, jeweils zusammen mit ihren Fan-Gruppen den Saal verließen) bildete ein Oktett von Rainer Rubbert den Abschluß des Abends. In dem mehrsätzigen Werk bleiben Anklänge an Strawinski nicht aus, aber trotzdem ist das Stück derartig packend durchdramatisiert, daß, wer sich am Neo-Neoklassizismus erfreuen mag, es hier auch tun kann.

Überragendes oder auch nur Hervorstechendes gab es an diesem Abend nicht. Wer sich die Zusammensetzung der Jury, im Programmheft sogar mit Porträtfotos abgebildet, betrachtete, hat sich darüber wohl kaum gewundert. Da saß ein Geiger der Philharmoniker, der zugleich im Scharoun-Ensemble spielt. Motto: laßt die Interpreten die Neue Musik beurteilen. Beethoven hatte dazu gesagt: Was kümmert mich seine Geige! Daneben der Intendant der Philharmoniker, vermutlich des Notenlesens dürftig kundig und der zeitgenössischen Musik gegenüber so aufgeschlossen, wie es die Programme der Philharmoniker jedes Jahr erneut verraten.

Ein Fagottist des (Ost-)Berliner Sinfonieorchesters namens Jürgen Buttkewitz, 1976 gar zum Kammervirtuosen ernannt, tat mit. Bei den DDR-Musiktagen 1990 ist der auch mal als Komponist aufgetaucht — da hat ein Fred Buttkewitz mit der mecklenburgischen Staatskapelle ein Stück von ihm interpretiert. Die Familie macht's möglich.

Albrecht Dümling, Musikjournalist beim 'Tagesspiegel‘, sitzt einträchtig neben den Philharmoniker- Vertretern, hat er sich doch nie zuschulden kommen lassen, die Maxime des 'Tagesspiegels‘, schlechte Kritiken seien bei den Philharmoniker schlichtweg unmöglich, zu unterlaufen. — Auch der Rundfunk darf nicht fehlen. Norbert Ely ist beim RIAS Chef der Abteilung »Wort und Musik«, die mit Neuer Musik wohl herzlich wenig am Hut hat. Vielleicht hat das Jury-Taschengeld gereizt. Der junge, aufstrebende Martin Demmler vertrat den SFB.

Helga de la Motte-Haber war als Musikwissenschaftlerin präsent und von ihr wenigstens kann erwartet werden, daß sie Neue-Musik-Partituren lesen kann, ist Neue Musik doch ihr Spezialgebiet.

Drei Feigenblatt-Komponisten vervollständigten die Jury: Christfried Schmidt, Mitte der Siebziger in der DDR als unangepaßt aus der Kirchenmusik kommend, saß beim Konzert einträchtig neben seiner Lebensgefährtin Ellen Hünigen, die ebenfalls in den Genuß eines Stipendiums gekommen war. Dann zwei Vertreter der jungen Generation, Laurie Schwartz und Helmut Zapf. Beide bereits ein wenig anerkannt, aber noch nicht so, daß sie als unabhängig von gleichaltrigen Veranstaltern Neuer-Musik-Konzerte betrachtet werden können. Vier der zwölf geförderten Komponisten treten im Berliner Neue-Musik-Leben denn auch als Veranstalter auf.

Wie da ausgewählt wurde, wäre ein Rätsel geblieben, gäbe es nicht das glückliche Motto: »Ein Preis kommt selten allein«. So hat kaum einer der Gekürten weniger als bereits vier Kompositionspreise oder Stipendien vorzuweisen. Diese Abonnements gingen weiter. Im Programmheft dankt Kultursenator Roloff-Momin den Mitgliedern der Jury für ihre verantwortungsbewußte Tätigkeit.

Wir danken für die fachkundige Jury-Berufung, das etwas trostlose Ergebnis ihrer Partitur-Leseübungen und die vollständig gelungene Ghettoisierung der entstandenen Stücke in ein einziges Dreieinhalb- Stunden-Programm. Karajan aber läßt grüßen und hatte recht: Partitur lesen können nicht viele. Als Tip für zukünftige Jury-Mitglieder: deshalb gibt's ja Tonbandaufzeichnungen. Klaus Schrager

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