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Schriftsteller unter Mordverdacht

Dem Österreicher Jack Unterweger werden neue Prostituiertenmorde vorgeworfen/ 1990 war er vorzeitig aus der Haft entlassen worden/ Jetzt ist er auf der Flucht  ■ Aus Wien Michael Völker

Bis Freitag vergangener Woche galt Jack Unterweger als Musterbeispiel erfolgreicher Resozialisierung in Österreich. Der Öffentlichkeit präsentierte er sich im weißen Anzug, mit schwarzem Hemd und roter Blume im Knopfloch. Als einer, dem es gelungen war, seine Aggressionen umzuleiten und sie auf dem Papier auszuleben. Die schwere Kindheit schreit aus seinen Gedichten hervor:

Die Mutter, langes rotes haar, sich im leben verrannt, als kapital das gute aussehen. Der Vater, italoamerikaner von der us-navy in triest, der zahlende gast. Und Jack, unten im keller, die schwester als beistand, in haßliebe hervorgepreßt, unterweger, das besatzungskind — ein vergreistes kind, dem es gefiel, schlecht zu sein.

Unterweger wurde 1976 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Trauma wurde zum großen Milderungsgrund — er schaffte es, darüber zu schreiben und zu reden. 1990 kommt Unterweger, der Gefängnisliterat, vorzeitig frei. Seit Freitag wird der 41jährige wegen des Verdachts des Mordes an acht Prostituierten international gesucht. Der Mord, für den Unterweger verurteilt wurde, geschah 1974 in Herborn in der Bundesrepublik. Er hatte ein 18jähriges Mädchen mit einer Stahlrute erschlagen. Vor Gericht hat er ausgesagt, er hätte in diesem Augenblick seine Mutter vor sich gesehen. In seiner Biographie schlägt die kalte und brutale Sprache durch: Zugegeben, ich sitz' nicht wegen irgendwas hier. Ich hab' ein Mädchen zu heftig massiert.

Unterwegers Mutter war Prostituierte. Seine Tante ebenfalls. Jack wuchs beim Großvater auf. Es folgten Erziehungsanstalten, schließlich die Karriere als Zuhälter, dann — nach dem Mord — das Gefängnis: Stein, Österreichs größte Justizanstalt, Festung für Schwerverbrecher. Unterweger holte die Schule nach, begann zu schreiben, gründete einen eigenen Verlag und gab die Literaturzeitung 'Wortbrücke‘ heraus. Sein autobiographischer Roman Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus erregte Aufsehen. Mit öffentlichen Mitteln wurde er verfilmt, beim „World Film Festival“ in Montreal gezeigt und mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet. Unterweger schrieb noch zwei Bücher: Kerker undEndstation Zuchthaus.

„Keine akute Rückfallgefahr“

Sein Begnadigungsantrag löste in Österreich eine Debatte über lebenslange Haftstrafen aus. Unterweger erfährt breite Unterstützung. „Keine akute Rückfallgefahr“ steht in den psychologischen Gutachten. Unterstützerkomitees bilden sich, der PEN-Club tritt für ihn ein und die „Grazer Autorenversammlung“. Auf Bewährung wird Unterweger entlassen. Mit dem Geld aus dem Film führt Unterweger ein ordentliches Leben, berührt sein Publikum in zahlreichen Lesungen und macht auf die Problematik des Wegsperrens aufmerksam. Sein neues Bühnenstück Schrei der Angst beschäftigt sich mit der sozialen Ausgrenzung Aids-Kranker und wird mehrfach aufgeführt. Unterweger wird zum gefeierten Schriftsteller. Er läßt keine Veranstaltung mehr aus. Dennoch schwindet sein Name allmählich aus den Medien, der literarische Ruhm bleibt aus.

Heute, fünf Tage nach dem Haftbefehl, hat Unterweger keine Unterstützung mehr. Gemeinsam mit seiner 18jährigen Freundin befindet er sich auf der Flucht. Zuletzt wurde er am Wochenende in St.Gallen in der Schweiz gesehen. So mancher, dessen Name in den Unterstützerlisten stand, weiß nicht mehr, wie er dort hingekommen ist. Jene, die nicht auf den Listen erschienen, haben es ohnedies schon immer gewußt.

Im Oktober 1990 beginnt eine unheimliche Mordserie. Wie sich später herausstellt, haben alle Verbrechen eine Verbindung: Fünf Monate nach Unterwegers Entlassung wird in Graz eine Prostituierte erdrosselt. Der Literat hält sich zu dieser Zeit in Graz auf, um an den Vorbereitungen zur Theateraufführung eines seiner Stücke mitzuwirken. Im Dezember wird in Dornbirn in Vorarlberg eine Prostituierte erdrosselt. Unterweger befindet sich zur Tatzeit für Hörspielaufnahmen im nahen Bregenz. Im März 1991 verschwindet in Graz eine weitere Prostituierte und wird später ermordet aufgefunden. Unterweger wird bereits von der Polizei verdächtigt und vernommen. Er hat ein Alibi: Eine Freundin bestätigt, daß er zu dieser Zeit in Wien war. Später stellt sich heraus, daß Unterweger am Tag des Verschwindens der Prostituierten unweit von Graz eine Lesung gehalten hat. Seit April 1991 verschwinden in Wien mehrere Prostituierte. Ihre Leichen werden später in verschiedenen Waldstücken in der Umgebung von Wien gefunden: Allesamt nackt und mit ihren Strümpfen erdrosselt. Am Wiener Strich bricht Panik aus. Die Polizei sucht fieberhaft den Mörder. Sie vernimmt auch Unterweger. Vorerst ohne Ergebnis. Bis die Kriminalisten in Graz das falsche Alibi für den zweiten Mord in ihrer Stadt auffliegen lassen. Ermittlungen in Wien stellen eine weiteres Alibi in Frage.

Als am Freitag der Haftbefehl ausgestellt wird, taucht der ehemalige „Lebenslange“ unter. Telefonisch meldet er sich bei Zeitungen und beteuert: „Ich war's nicht.“ Es gilt die Unschuldsvermutung.

Während die Öffentlichkeit gespannt die mediale Hetzjagd verfolgt, steigt bei vielen Zeitgenossen eine fast flehentliche Hoffnung auf: „Bitte nicht Jack Unterweger.“ Seine Überführung könnte zum Rückfall in die Steinzeit des Strafvollzugs werden.

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