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König Lear wohnt nicht mehr hier

Ein Theatermarathon in München: Der nette Dieter Dorn scheitert am bösen Shakespeare  ■ Von Christian Gampert

Wenn man über die weite, schneebedeckte Hochfläche der Schwäbischen Alb auf München zufährt, dann ist man in Lears Land. Es ist wüst und leer, wie der Pathetiker sagt, der Wind geht, und man fühlt sich sehr klein. Dann betritt man das Foyer der Münchner Kammerspiele und sieht lauter gepudertes Volk, die Herren zupfen am Jackett, die Damen richten die Frisur. Sie alle wollen nach Britannien, im Szenenbild paradieren schon Soldaten. Die Bühne ist ein großer grauer Kasten, ein lichter Bunker, allerlei Klapptüren und Zugbrücken führen zu ihm hin. Jürgen Rose hat ihn gebaut, ein Gehäuse wie eine stählerne, überdimensionale Herzkammer, zu groß für einen bewohnbaren Raum, aber zu klein für die kalte Freiheit, in die König Lear sich aufmachen wird.

Fast sechs Stunden soll die Expedition dauern: sie beginnt famos, und sie endet fürchterlich. Sie beginnt mit einem Liebeswettstreit, und später röchelt sie in langer Agonie vor sich hin. Als Lear erscheint, der Schauspieler Rolf Boysen, hat er einen riesigen, schweren Mantel um. Das ist das Fell, das es zu teilen gilt. Sinnend blickt Boysen ins Publikum, wie ein Priester, der das kommende Unheil ahnt, ein amtsmüder König auf dem Rückzug. Dann geht er seine Kinder holen — und kehrt zurück als lustiger Greis, ein feundlicher, etwas kindischer Daddy, der ein Erbe zu vergeben hat und dafür einen habituellen, formelhaften Liebesbeweis erwartet, rhetorische Knickse seiner raffgierigen Töchter; er ist schon mit wenig zufrieden.

Augenzwinkernd will der Alte ein paar Schmeicheleien hören. „Wer liebt uns am meisten?“. Die erste Tochter küßt ihm die Knie, eine bleiche, harte Frau; die zweite beschwört wohlgesetzt ihre Liebe. Oh! Gut gesagt! ein Sprachspiel halt, ein lästiges Ritual, man steht auf dem Boden des Grundgesetzes und bekommt diesmal ein paar Ländereien als Mitgift.

Cordelia, die dritte Tochter, sieht in Dieter Dorns Münchner Inszenierung so aus, als komme sie geradewegs aus dem Reformhaus oder von der Bahnhofsmission. Und plötzlich wird es kühl wie in den netten Talkshows, wenn es nach dem Geplänkel endlich zur Sache geht. Cordelia kann die richtigen Worte nicht finden, sie will auch gar nicht unter Zwang hersagen, was ihr selbstverständlich und eh der ständigen Veränderung unterworfen ist. Dafür fliegen ihre Hände, ein inzestuöses Flirten, sie liebkost den Alten, der schon ein bißchen eingeschnappt ist; frisch, nochmal, „bessert eure Rede etwas“, aber es nutzt nichts. Es gibt einfach Leute, die können keinen Fahneneid schwören, keine Pflichtübung absolvieren, weil die wirklichen Gefühle andere, differenziertere sind.

Der Vater versteht diesen Subtext nicht. Und die Schauspielerin Stefani Jarke muß gar nicht viel machen, um den Alten zur Weißglut zu bringen: ein bißchen frische Naivität reicht schon. Lears ungläubiges Staunen schlägt um in den Zorn des Machtgewohnten. Boysen, der am Anfang noch sehr viel Kraft hat, zeigt die idiotische Wut eines grau gewordenen Dickkopfs, der nun Bannflüche schleudert und eine Liebesheirat torpediert. Die beiden Freier aus Frankreich und Burgund stehen da wie begossene Pudel, zwei parfümierte Bubis; der eine verzichtet auf die enterbte Tochter, der andere, ungeliebte, nimmt sie ob ihrer moralischen Qualitäten mit nach Haus: Das ist die Höchststrafe.

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So nimmt das Drama dieser Inszenierung seinen Lauf. Denn Dieter Dorn will nach dieser fulminanten Eingangsszene den ganzen Shakespeare spielen, mit allen seinen Verästelungen, und das führt dazu, daß ihm die Hauptperson Lear gründlich aus dem Blickfeld gerät. Wir werden in den folgenden Stunden also viel Intrigen verfolgen und Theaterblut fließen sehen, und das wird uns völlig unberührt lassen. Ein Ritterspektakel, eine Familienaffäre. Na und? Der Wahnsinn, um den es doch gehen sollte, bleibt draußen vor der Tür.

Ob mit Bedacht oder nicht, ist schwer zu sagen. Dieter Dorn ist einfach ein netter Mensch. Das ganze Ensemble ist verkleidet, als habe es kollektiv einen Batik-Kurs besucht: sogenannte zeitlose Gewänder, von denen man nicht weiß, ob sie dem Mittelalter oder der Hippiekultur entspringen. Auch eine Modernisierung der Psyche ist offenbar nicht vorgesehen: man will schon verstehen, warum Lear sich in seinen beiden älteren Töchtern täuscht, warum er nicht sehen will. Darüber erfährt man nichts. Regan und Goneril: wer von Anfang an auftritt wie ein Kühlschrank, dem schenkt man ein Erbteil, aber nicht seine Zuneigung.

Lear ist das Drama einer mißglückten Vaterliebe, vielleicht sogar einer Lebenslüge, die dann in Einsamkeit und Depression ausagiert wird: jenseits der einst beherrschbaren Gesellschaft. Aber die mörderischen Paare, die Lears Unglück ins Werk setzen sollen, bleiben in München seltsam flach und ungreifbar, Schablonen der Angepaßtheit, ohne jede Angebote, mit ihnen auch zu sympathisieren, ohne die Abgründe des schlechten Gewissens. Die Gonreil der Gisela Stein ist kalt wie Kruppstahl, ein Geier „mit einem marmornen Herzen“. Daß diese Frau erotische Gelüste haben könnte, scheint völlig undenkbar; daß sie ihren Vater aus dem Haus wirft dagegen logisch. Der nervende Alte gehört ins Altersheim. Keine Hexe, eine Pragmatikerin. Nebenbei hat sie einen braven Mann (Manfred Zapatka). Die Reagan der Franziska Walser darf sich etwas gepflegter geben, dafür ist sie mit Cornwall verheiratet, dem Schurken vom Dienst (Arnulf Schumacher). Bis der endlich dem Lear-treuen Grafen Gloucester die Augen nach innen treten darf, muß er sich schon arg zurückhalten: der Mann kommt aus dem Catcherzelt.

Daneben turnt die beredsame Canaille Edmund, jener Gloucester- Sohn, der Vater und Bruder aus dem Weg räumen möchte: Michael von Au kommt zunächst mit dem Gestus der Jeans-Werbung daher und wechselt dann ins etwas fiesere Fach — der Yuppie vom Freikorps, mit Stiefeln und Ledermantel. Und Claus Eberth, der treue Kent, erledigt alle Feinde Lears mit geradezu Biermannscher Berserkerhaftigkeit.

Aber das alles führt nicht ins Zentrum des Stücks, in Lears Selbsttäuschung und Wahn. Wir sehen viele Einzelauftritte aus dem deutschen Stadttheater, die vielen Türen in Jürgen Roses Burg gehen ständig auf und zu: eine Dramaturgie der klappenden Türen. Klappe zu, Stück tot.

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Zwei Männer irren durch den Sturm, zwei verlassene Väter. Der geblendete Gloucester will sich vor Kummer von den Klippen von Dover stürzen — und landet weich im Gras. Ein Flug der Einbildungskraft. Und so psalmodiert er weiter vor sich hin, mit schiefgelegtem Kopf, wie ein Verse spuckender Vogel. Der Schauspieler Thomas Holtzmann verirrt sich an diesem Abend grotesk ins Terrain der Theatersänger: so sieht sie aus, die Tragik fürs Parkett.

Lear selbst hat wenigstens noch seinen Narren dabei (Heinz Bennent), einen bunten Commedia-Jogger und Straßenphilosophen. Der verklickert ihm in allen Farben, wie dumm es ist, zurückzutreten, sich impotent zu machen, zum „Onkel“ zu werden. Bennent macht aus der Rolle einen obdachlosen Harlekin, leider bisweilen auch den Veitstänzer. Und Lear kann mit seinen Ratschlägen so gar nichts anfangen: Rolf Boysen hat sich für eine freundliche Senilität entschieden, er zeigt keinerlei Trauer, Starrsinn oder Heimatlosigkeit; er ist nur ein wunderlicher Psychiatriepatient im Nachthemd, einer, den man gern bei sich auf Station hätte. Boysen ist nie mit sich allein, auf seine Einsamkeit zurückgeworfen, sondern immer mit dekorativen Arrangements umstellt: es ist Dorns fataler Hang zur Versöhnlichkeit, zum Verharmlosen und Witzchenmachen, der das Stück umbringt.

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Auch den Horror mag man Dieter Dorn nicht glauben: Wind kommt auf und rüttelt an den Saaltüren. Blitze zucken durchs Publikum, vorne wird gemetzelt und geblutet: ein Schauermärchen, ein Ammenmärchen. Lear auf der Heide, die Erde tut sich einen Spalt weit auf: es ist nur die Tür zum Dachboden. Ein Fleckchen Erde bleibt Lear noch — er hält sich daran fest wie ein Schrebergärtner, wie ein Kind. Keine Beckett-Figur. Nur ein närrischer Alter, wir lieben ihn alle.

Angesichts der Gigantomanie des Projekts ist man etwas sprachlos: es konzentriert sich aufs Unwesentliche. Ben Hur, vier Stunden, Die Bibel, fünf Stunden, Dieter Dorn, fünfeinhalb Stunden. Claus Peymann hat einmal gesagt, bei Dorn gehe es zu wie in einer Boutique (was für seinen Faust wohl stimmen mag). Jetzt ist es eine Stufe schlimmer: wie in einem höheren Töchterpensionat. Es gibt lauter Musterschüler, die „auf höchstem Nievau“ (so sagt man wohl) Theater spielen aber keinen einzigen Wahnsinnigen. Es gibt den Dramaturgen Michael Wachsmann, der das Stück neu übersetzt, der es flüssiger (und modischer) macht. Aber es gibt keinen Regisseur, der einem schlechte Träume bereitet. Und so müssen wir wieder raus auf die Landstraße, auf die einsame Alb. Dort ist es wüst und leer, und kein Staatsschauspieler singt dort mehr.

William Shakespeare: King Lear. Regie: Dieter Dorn, Bühne: Jürgen Rose. Mit Rolf Boysen, Heinz Bennent, Gisela Stein, Franziska Walser, Claus Eberth, Thomas Holtzmann u.a. Nächste Vorstellungen: 27. und 29.Februar, Beginn 17.30 Uhr

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