: Aus eines toten Recken Hose
Helke Sanders Film über Soldaten als Vergewaltiger ■ von Christiane Peitz
In Freudenstadt kamen an einem Tag hundert Frauen in die Klinik zur Nachbehandlung. In den Krankenakten des Berliner Auguste- Viktoria-Krankenhauses kann man es bei den Geburten nachlesen: „Vater unbekannt (Vergewaltigung)“. Auch die Charite hat noch Akten: „mehrfach vergewaltigt, Abtreibung abgelehnt“. Helke Sander wollte es wissen: Wieviele Frauen wurden 1945 in Berlin vergewaltigt, von Russen, Amerikanern, Franzosen? Was wurde aus den Frauen? Was sagen die Vergewaltiger heute dazu? Sie hat mit den Frauen gesprochen, mit ehemaligen sowjetischen Soldaten und mit Männern und Frauen, die Kinder einer Vergewaltigung sind. Die Interviews hat sie mit Archivmaterial angereichert, Dokumentarmaterial aus der zerbombten Stadt, US-Aufklärungsfilmen über den Schutz vor Geschlechtskrankheiten und haufenweise Statistik. Das Ergebnis: BeFreier und BeFreite, 212 Minuten über das Tabu jeglicher Kriegsberichterstattung. Es hätte der wichtigste Film des Festivals werden können, aber es wurde ein Lehrfilm, der zeigt, wie man es nicht machen darf.
Helke Sander weiß von Anfang an, was sie herausfinden will: Daß Frauen Opfer sind und Männer Schweine. Zwar macht sie sich die Mühe, nach Minsk zu fahren — man stelle sich den Aufwand vor: Recherchen, Übersetzer, Kamerateam, Finanzierung —, um mit den Tätern zu sprechen. Und die Männer, naiv, lachend, erläutern ihre haarsträubenden Theorien von der größeren sexuellen Potenz des männlichen Geschlechts und daß die Frauen vergewaltigt werden wollten, um den Gegner per Geschlechtskrankeit zu schwächen. Aber die eine entscheidende Frage stellt Helke Sander nicht: „Haben Sie vergewaltigt?“ Vermutlich hätten ihre Interviewpartner sie angelogen, dennoch hätte ich die Lügen gerne gehört. Ich fürchte jedoch, Sander sparte sich die Frage nicht, weil sie die Lüge ahnte, sondern weil sie die Antwort nicht interessierte. Für sie ist ohnehin jeder ein potentieller Täter, und so führt sie die paar männlichen Exemplare vor wie Tiere im Zoo.
Sander geht es nicht um den einzelnen Menschen, nicht um die konkrete, individuelle Tat und die individuelle Verantwortung dafür: BeFreier und BeFreite bleibt eine konfuse Materialsammlung über eine unzählige Masse von Tätern und Opfern. Zwar erschrecken die Details: das Unverständnis der Ehemänner zum Beispiel, die gesellschaftliche Ächtung der Opfer, die Tatsache, daß Vergewaltigung nie als Kriegsverletzung anerkannt wurde und es nie eine Entschädigung gab. Manche der Frauen erzählen zum erstenmal. Oder ein Mann berichtet, wie er erst mit 40 Jahren erfuhr, daß er das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Ein anderes „Vergewaltigungskind“ nimmt es bis heute der Mutter übel und nicht dem Vater. Aber Sander geht es nicht um die Konkretion. Die Personen und Geschichten, die sie an die Öffentlichkeit zerrt, verschwinden sofort wieder in der Anoymität, sprich: der Willkürlichkeit ihrer Zusammenschnitte.
Sanders Desinteresse an den Personen — meist erfährt man nicht einmal die Namen — färbt auf die Opfer ab. Zwar erzählen die Frauen ihre Geschichte, jede einzeln, im Detail. Eine Jüdin berichtet vom 8. Mai, ihrem Glück, endlich aus dem Versteck im Keller herauskommen zu können und ihrem Schock, als sie begriff, daß sie sich weiter verstecken muß. Eine alte Dame berichtet, wie sich ihre Mutter an ihrer Stelle hat vergewaltigen lassen, um die Tochter zu schonen. Alle erzählen erschreckend nüchtern, emotionslos von den Übergriffen; keine Tränen vor der Kamera, kein Stocken — nicht einmal dieses Phänomen hinterfragt die Regisseurin. Stattdessen unterbricht sie die Berichte, schneidet Aufnahmen von Soldaten auf den Straßen dazwischen, von entsetzlich zugerichteten Leichen, von Männern, die in den Armeepuff gehen und suggeriert jedesmal: Der da gerade zufällig im Bild ist, der war es. So entwürdigt sie auch die Opfer und reduziert sie auf Menschenmaterial — Interviewschnipsel zum Zweck der Beweisführung. Ein einziges Mal nur bemerkt sie aus dem Off, viele historische Aufnahmen seien Propagandamaterial zur Diskreditierung des jeweiligen Gegners. Was sie nicht davon abhält, sie für eigene Propagandazwecke zu benutzen.
Ein Beispiel, eines der harmlosesten: Wir sehen einen (heutigen) Männerchor, der das „Heideröslein“ singt. Schuberts Lied als Vergewaltigungsphantasie. In Großaufnahme die Gesichter der Sänger in Großaufnahme: offene Münder, verzerrte Mienen. Eine doppelte Lüge: Die Szene ignoriert den Unterschied zwischen dem Lied und einer Vergewaltigung, und sie legt den Gedanken nahe, daß auch dieser Sänger ein zumindest potentieller Vergewaltiger ist. Eine perfide Methode.
Helke Sander ist übrigens ständig im Bild. Sander im Profil, Sander im Sessel, Sander stehend, Sander frontal. Oft hört sie nicht zu, läßt ihren Blick wandern, wirkt müde, bestenfalls pflichtbewußt. Vielleicht hält sie das für eine besonders raffinierte Interviewtechnik, mir verrät es ihre Einstellung, die auch in ihrem Zahlenfetischismus zum Ausdruck kommt. Zahlen, so scheint es, sind ihre einzige Leidenschaft.
Gegen Ende fragt sie den Mann, der mit 40 erfuhr, daß sein Vater ein Vergewaltiger ist, ob auch er manchmal Gewalt gegen Frauen anwende. Die Kamera fährt von seinem Hosengürtel hoch zu seinem Gesicht, und der Mann gesteht ehrlich, er habe auch schon mal versucht, seine Freundin rumzukriegen. Will Helke Sander damit sagen, er sei qua Geburt zur Gewaltanwendung determiniert? Eine Frage der Gene? Vielleicht wollte sie wissen, ob er wegen seiner Herkunft im Umgang mit Frauen sensibler ist. Aber die Kamerafahrt über seinen Gürtel läßt das Gegenteil vermuten: ein biologistischer Schwenk.
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