Kein Sieg der Demokratie

Seit einem Jahr regiert eine Frau in Bangladesch: Khaleda Zia, Witwe des 1981 ermordeten Generals Zia Ur-Rahman/ Der Regierungswechsel hat den Menschen bisher keinen Vorteil gebracht  ■ VON WALTER KELLER

Geändert hat sich für mich noch nichts seit dem Regierungswechsel. Es sind nur die Personen ausgetauscht worden“, erzählt der Rikschafahrer enttäuscht, der mich durch den Verkehrsdschungel Dakkas, der Hauptstadt von Bangladesch, radelt. Der hagere Mann heißt Salim, ist 24 Jahre alt und wie die meisten seiner schätzungsweise 150.000 Kollegen, die mit ihren buntbemalten Gefährten den überwiegenden Teil des Nahverkehrs der Stadt abwickeln, vor einigen Jahren vom Land in die Großstadt gekommen.

Salim hat sein Dorf im Norden von Bangladesch damals verlassen, um in der Sieben-Millionen-Metropole, die auf den ausländischen Besucher so wirkt, als platze sie aus allen Nähten, Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Heute lebt er mit seiner Familie im Plassey Slum, einem von über 1.000 Elendsvierteln in der Hauptstadt. Insgesamt leben in der Stadt schätzungsweise zwei Millionen Menschen wie Salim: In armseligen Baracken ohne regelmäßige Wasserversorgung, sanitäre Einrichtungen oder Elektrizität, ganz zu schweigen von anderer städtischer Infrastruktur. Trotzdem wächst diese Stadt alljährlich um mehrere hunderttausend Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind.

Arbeit fand Salim in Dakka, aber der Traum von einem besseren Leben ist für ihn bisher nicht in Erfüllung gegangen. Und auch zukünftig wird sich seine Lage wohl nicht wesentlich verbessern, obwohl die neue Premierministerin Begum Khaleda Zia nach ihrem Wahlsieg vor einem Jahr „ein besseres Bangladesch“ versprach. Sie gelobte anläßlich ihres Regierungsantritts, das Land von Armut, Korruption und Gewalt zu befreien und die Menschenrechte zu achten. Der wirtschaftlichen Erholung des verelendeten Landes werde absoluter Vorrang eingeräumt. Dem ehemaligen Präsidenten Ershad werde sie den Prozeß machen, weil er zusammen mit seiner Clique von Militärs und korrupten Politikern in den neun Jahren seiner Amtszeit Hunderte von Millionen Dollar an ausländischer Hilfe auf Privatkonten ins Ausland verschoben habe.

Die Verfahren gegen Ershad laufen derzeit — zehn Jahre Freiheitsstrafe hat er bereits von einem Sondergericht für illegalen Waffenbesitz erhalten. Ob es jedoch auch zu einer Vollstreckung des Urteils des vom Volk Ende 1990 geschaßten Diktators kommen wird, bleibt abzuwarten. Denn nur gut ein Jahr nach seinem Sturz genießen der Ex-General und die von ihm während seiner Amtszeit gegründete „Jatiya Party“ (JP), die über 35 Sitze im 330 Sitze umfassenden Parlament verfügt, schon wieder eine gewisse Akzeptanz in der Bevölkerung. In vielen Landesteilen ist die JP wieder präsent und hält gut besuchte Kundgebungen ab.

Medienkritik und Kritik der Opposition

Obwohl Journalisten nach dem Machtwechsel von Regierungsvertretern diskret aufgefordert wurden, sich mit Kritik am neuen Regime zurückzuhalten, mehren sich Berichte in den wieder weitgehend freien Printmedien, die der neuen Regierung Unfähigkeit, Versagen und amateurhaftes Vorgehen bescheinigen. Die politisch unerfahrenene Khaleda Zia, Witwe des im Mai 1981 ermordeten Ex-Premiers General Zia-ur Rahman, der nach ihrem Wahlsieg auch im Ausland viel Wohlwollen entgegengebracht wurde, wird autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Das angesehene Wochenmagazin 'Dhaka Courier‘ spricht von einer „politischen und administrativen Hölle“.

Für „Awami League“ (AL)-Führerin Sheikh Hasina, Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman, befindet sich das Land auf dem besten Weg, die Chancen für eine Demokratisierung zu verspielen, die sich nach dem Sturz des Diktators Ershad durch eine Volksbewegung im Dezember 1990 und den anschließenden ersten freien und fairen Wahlen am 27.Februar 1991 boten. Die ambitionierte Oppositionsführerin wirft der BNP-Regierung vor, die Administration zu manipulieren, ein Ein-Parteien-System anzustreben: „Für Khaleda Zia gilt Demokratie nur auf dem Papier, tatsächlich wird die gesamte Nation durch Terror und Gewalt aufgerüttelt.“

Sheikh Hasina wandte sich sogar in einem privaten Schreiben an die wichtigsten ausländischen Botschaften im Land, um „die internationale Gemeinschaft darauf aufmerksam zu machen, was wirklich im Land passiert und wie es um Bangladesch steht.“ Mit dieser spektakulären Aktion haben die jahrelangen persönlichen Differenzen der Führerinnen der beiden größten Parteien einen neuen Höhepunkt erreicht.

Nur während der Demokratiebewegung gegen Ershad hatten Khaleda Zia und Sheikh Hasina das Kriegsbeil vorübergehend begraben und nicht zuletzt dadurch das gemeinsame Ziel, den Sturz des Diktators, erreicht. So sind viele Beobachter dann auch der Auffassung, daß die neuen privaten Auseinandersetzungen der beiden Damen für das Land alles andere als förderlich sind.

Politische Beobachter sind der Auffassung, die neue Premierministerin reihe sich in die Tradition der Führer der Vergangenheit ein, die der Bevölkerung das „Blaue vom Himmel“ versprachen. Wenn es dann doch anders kam — und das war meist der Fall — gereichte den Politikern nicht selten die tiefe Religiosität der Bangladeschis zum Vorteil. Der Glaube, nichts geschehe ohne Allahs Wunsch, ist auch heute noch weit verbreitet.

„Das führt dazu, daß die Menschen allem noch etwas Positives abzugewinnen versuchen. Wenn etwas nicht so klappt, wie sie es sich vorgestellt haben, wird keine andere Person dafür verantwortlich gemacht, nur das eigene Schicksal. Wenn ihre Träume zerstört werden, hoffen sie darauf, daß Allah beim nächsten Mal gnädiger mit ihnen umgeht“, erklärt der Journalist Farug Faisel die Psyche der Bangladeschis, jenes Volkes, das vor 20 Jahren nach einem erbitterten und blutigen Kampf, der schätzungsweise drei Millionen Menschenleben forderte, mit indischer Unterstützung die Loslösung von Pakistan erreichte.

Die Mehrheit der Bevölkerung glaubte damals, der neue Staat werde eine neue Gesellschaft hervorbringen. Kurz nach der Befreiung von der Bevormundung durch (West-) Pakistan kamen diese Hoffnungen in einem Lied zum Ausdruck, das damals sehr populär war: „Bangladesch gehört den Bauern, den Arbeitern, Fischern und Tagelöhnern. Es ist ein Land, wo jeder sich um den anderen kümmert und jeder sich um das Wohlergehen des anderen sorgt...“ Es dauerte aber nur kurze Zeit, bis die Menschen realisierten, daß an die Stelle der pakistanischen Ausbeuter nun neue Ausbeuter getreten waren — und die waren diesmal selber Bengalen und hießen Mujibur Rahman, Zia-ur Rahman oder Mohammad Ershad. Und vielleicht wird auch einmal Khaleda Zia vom Volk in diese politische Ahnengalerie eingereiht.

„Noch nie seit der Staatsgründung waren wir in einer schlimmeren Lage als derzeit“, meint A.S.Mahmood, ehemaliger Präsident der Handelskammer. Selbst Finanzminister Saifur Rahman spricht von einer schweren Krise, glaubt jedoch, das Land werde die Rezession bald überwinden.

Der jährliche Anstieg des Bruttosozialprodukts, der in den achtziger Jahren noch durchschnittlich vier bis fünf Prozent betrug, ist im Zeitraum 1990/91 auf nominell 2,5 Prozent zurückgegangen. Bei einem angenommenen Bevölkerungswachstum um den gleichen Prozentsatz ergibt sich kein reales Wachstum der Volkswirtschaft. Die Preise steigen, und die Kaufkraft, vor allem die der ländlichen Bevölkerung, geht weiter zurück. Und während der Außenhandel schrumpft, nehmen Schmuggelaktivitäten zu. Allein der illegale Handel mit Indien beläuft sich jährlich auf viele Milliarden Taka.

Überall fehlt es an notwendigen Investitionen. Viele trauen dem Land und der neuen Regierung nicht. Die wachsenden Schwierigkeiten der Regierung mit den starken Gewerkschaftsverbänden, die sich den Privatisierungsversuchen vieler öffentlicher Unternehmen mit Streiks widersetzen, schrecken potentielle Investoren ab. Nur die Textil- und Bekleidungsindustrie, die seit einigen Jahren größter Arbeitgeber ist — 600.000 Beschäftigte, davon 80 Prozent Frauen — und rund 40 Prozent der Exporterlöse erwirtschaftet, schreibt derzeit keine roten Zahlen. Außer ihr gibt es jedoch im Land kaum nennenswerte Industrien, die die notwendigen neuen Arbeitsplätze schaffen könnten.

Die gesamtwirtschaftlich wichtige Juteindustrie durchläuft schon seit einigen Jahren ein tiefes Tal, weil die Weltmarktpreise für diesen Rohstoff stark verfallen sind. Um Produktion und Verarbeitung aufrecht zu erhalten, muß die Regierung dieser Industrie mit riesigen Subventionen unter die Arme greifen. Für neuen Zündstoff ist bereits gesorgt: Die Weltbank hat die Regierung Khaleda Zia aufgefordert, im kommenden Haushaltsjahr 30.000 Arbeitsplätze in der Juteindustrie abzubauen. Und ein zugesagter Kredit der „Asiatischen Entwicklungsbank“ (ADB) in Höhe von 150 Millionen US-Dollar wird nur dann zahlungsreif, wenn die Regierung zehn Prozent ihrer Beschäftigten in den Staatsbetrieben entläßt.

Auch die neue Regierung wird an der totalen Abhängigkeit von ausländischen Hilfsgeldern kaum etwas ändern können. Auslandsgelder haben während der letzten Jahre fast zehn Prozent des Bruttoinlandproduktes ausgemacht und bis zu 80 Prozent der Entwicklungsausgaben des Landes finanziert. Damit ist die internationale Entwicklungshilfe seit Bestehen Bangladeschs zu einem festen Bestandteil des Staatsapparates und der gesamten Wirtschaft geworden. Das Land hat in den zwei Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit über 20 Milliarden US-Dollar an offizieller Hilfe erhalten, ohne daß eine grundlegende Besserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung eingetreten wäre. Kritiker sind sogar der Auffassung, die Entwicklungshilfe habe den Prozeß der Verarmung großer Teile der Bevölkerung noch beschleunigt. Und die nach der Unabhängigkeit in das Land fließenden Entwicklungshilfegelder hätten nicht zuletzt auch dazu beigetragen, ein Korruptions- und Betrugssystem aufzubauen, das besonders auf oberer Regierungs- und Verwaltungsebene sowie beim Militär ausgeprägt sei.

Heute leben 80 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und während es nach dem Abzug der britischen Kolonialherren vom Subkontinent „nur“ 15 Prozent Landlose gab, sind es heute etwa 60 Prozent.

Die absolut landlosen Familien vagabundieren umher und enden oft in den schmutzigen Slums der Großstädte — so wie Salim, der Rikschafahrer in Dakka. Aber auch dort sind sie nicht mehr sicher. Immer wieder werden die Menschen von kommunalen Behörden wie der „Dhaka City Corporation“ und der „Dhaka District Administration“ mit Hilfe der Polizei oder privaten Schlägertrupps aus den Elendsvierteln vertrieben und ihre armseligen Behausungen zerstört. Noch vor kurzem wurden wieder 700 Familien aus den Slums von Plassey, Nilkhet und Bakshibazar ohne vorherige Ankündigung vertrieben. Nur einen Tag später erfolgte die Räumung eines Elendsviertels, das sich Menschen direkt hinter dem Fünf-Sterne-Luxushotel „Sonargon“ errichtet hatten.

Grund für die Vertreibung sind meist die rapide steigenden Landpreise in den Städten, was dazu führt, daß kommunales oder privates Land, auf denen sich Slums befinden, für den Bau von Geschäfts- oder Bürohäusern mit dem Bulldozer regelrecht freigeräumt wird. All das geschieht, obwohl nur wenige Wochen vor den Vertreibungen der SlumbewohnerInnen die neue Premierministerin anläßlich des „World Habitat Day“ noch mit markigen Sprüchen angekündigt hatte, ihre Regierung werden sich dafür einsetzen, daß jeder Bangladeschi spätestens im Jahre 2000 über eine menschenwürdige Unterkunft verfügen kann.

Zurückzuführen ist die Armut sicher zu einem Teil auf die regelmäßig wiederkehrenden Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Sturmfluten und Dürreperioden, die in scheinbar brutaler Regelmäßigkeit das Land heimsuchen und Menschen und Tiere hinwegraffen. So, wie am 29.April 1991, als — offiziellen Angaben zufolge — 150.000 Menschen durch eine Sturmflut ums Leben kamen.

Der damals entstandene Schaden wird auf knapp zwei Milliarden Dollar geschätzt. Rund 450 Millionen Dollar sind bisher von der internationalen Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau gespendet worden, der jedoch nur schleppend vorangeht. Viele der Überlebenden der Katastrophe müssen bis heute in notdürftigst überdachten Ruinen durchhalten. Die Notunterkünfte der geschrumpften Familien bestehen aus Teilen von Wellblechdächern oder Bambuswänden, aus Plastikplanen oder Palmblättern.

Wenn die Sturmfluten nur Verwüstungen bringen, sind die 230 Flüsse, die das Land durchziehen, Segen und Fluch zugleich. Der Fluß ist der Quell allen Lebens und aller Fruchtbarkeit, aber wenn er — genährt von schweren Monsunregen — anschwillt, wird er zur lebensbedrohenenden Gefahr. So sind Überschwemmungen jährlich wiederkehrende Ereignisse in der Region, und bis zu einem gewissen Grad sind sie nützlich für das Ökosystem, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Fischerei und zur Sicherung des Grundwassers. Jedoch können diese Flutperioden auch immense Zerstörungen anrichten.

Am Wasser hängt alles

Innerhalb der letzten 35 Jahre hat es in Bangladesch 28 große Überschwemmungen gegeben, die vor allem durch die Schädigung des Bodens und der daraus resultierenden Erosion an der Wasserscheide des Himalaya verursacht werden. Der vom Wasser mitgeführte Schlamm lagert sich in den Flußbetten von Bangladesch ab, so daß die Aufnahmekapazität der Flußläufe reduziert wird. Die von den Flußsystemen des Brahmaputra und des Ganges nach Bangladesch hineingetragene Schlammenge wird auf jährlich zwei Milliarden Tonnen geschätzt.

Bangladesch übt allerdings nur auf neun Prozent des Einzugsgebiets der Flüsse, die Überflutungen verursachen, eine Kontrolle aus, während 91 Prozent außerhalb seiner Grenzen in Indien liegen und es somit selbst wenig zur Verhütung der Kastastrophen beitragen kann. Für die Kontrolle über die riesigen Wassermengen wäre dringend ein Abkommen mit Indien notwendig, über das seit Jahren verhandelt wird — bisher jedoch ohne konkretes Ergebnis.

Internationale Experten aus den USA, den Niederlanden oder Frankreich zerbrechen sich schon seit vielen Jahren die Köpfe, wie man mit verschiedenen Schutzmaßnahmen die Überschwemmungen eindämmen könnte. Aber Systeme wie etwa das Eindämmen der großen Flüsse durch meterhohe Aufschichtungen an den Ufern kosten sehr viel Geld, wovon Bangladesch nicht viel besitzt. Zwischen 20 und 50 Milliarden Dollar würden allein benötigt, um Eindeichungen der größten Flüsse zu erwirken. Auf der anderen Seite steht jedoch auch die Auffassung, die landwirtschaftlichen Verluste, die alljährlich von den Fluten verursacht werden, rechtfertigten nicht die enormen Ausgaben für einen totalen Flutenschutz.

Kritiker der Flutenschutzpläne weisen darauf hin, daß es nach den Fluten von 1987 und 1988 Rekordreisernten gegeben habe. Für die Bauern sei zu wenig Wasser eine größere Bedrohung als zuviel. Andere sind gegen eine Eindeichung der Flüsse, weil sie direkte Auswirkungen auf die Binnenfischerei befürchten. Ein Drittel des gesamten Fischfangs des Landes stammt von überflutetem Land. Von den Gegnern der Eindeichungen werden deshalb eher „sanfte“ Maßnahmen propagiert, um die Wassermassen unter Kontrolle zu halten. Diese beinhalten zum Beispiel den Aushub riesiger Becken, um Oberflächenwasser zu sammeln, sowie ein ausgeklügeltes Flutnotprogramm.

So sind die Chancen für „ein besseres Bangladesch“, wie es Khaleda Zia bei ihrem Regierungsantritt im vergangenen Frühjahr versprach, alles andere als rosig. Nicht auszuschließen ist allerdings auch, daß sich das Militär, das seit Mitte der siebziger Jahre eine bedeutende Rolle spielt und das Land meist direkt oder indirekt regiert hat, spätestens dann wieder offen in die Politik des Landes eingreifen könnte, wenn sich die Lage noch weiter zuspitzt.