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INTERVIEWDie »tödliche Überdosis« ist nicht erwiesen

■ Ein Gespräch mit Dr. Jörg Claus, Arzt am Städtischen Krankenhaus Prenzlauer Berg, über Arten des Drogengebrauchs

taz: Wie behandeln Sie Heroin- oder Opiatsüchtige?

Claus: Es gibt kein allgemeinverbindliches Konzept. Fast alle Süchtigen nehmen zusätzlich zum Heroin Schlaf- oder Beruhigungsmittel in großen Mengen. Jeder Fall liegt anders: Was hat jemand, wieviel und wie lange genommen? Viele wissen das selbst nicht. Um sie überhaupt behandlungsfähig zu machen, wird Polamidon verabreicht. Schon im Krankenhaus muß die soziale und psychische Stabilisierung eingeleitet werden, die dann durch außerklinische Projekte fortgesetzt werden kann.

Gibt es überhaupt eine tödliche »Überdosis« Heroin?

Das wissen wir nicht. In den 20er Jahren etwa war ein großer Teil der Mediziner in der Lage, unter stabilen sozialen Verhältnissen, geschützt und einigermaßen kontrolliert, ungehindert Morphine zu nehmen. Heute zwingt die Illegalisierung des Konsums die Leute früh zum Versteckspiel. Eine realistische Einschätzung des puren Heroinkonsums ist daher nicht möglich.

Woran sind dann die sogenannten »Drogentoten« gestorben?

In der Regel sterben die Drogensüchtigen an einer Atemlähmung. Ursache ist immer eine Mehrfachvergiftung durch Barbiturate, Tranquilizer oder Alkohol. Die Süchtigen nehmen zusätzlich zum Heroin Barbiturate, weil sie nur so den »Kick« spüren. Oder weil sie nicht genug Heroin bekommen. Das ist die typische Konstellation. Barbiturate wirken paradox: Als Hypnotika machen sie zusätzlich hellwach, sie vermitteln eine Art orgiastisches Gefühl, erst im weiteren Verlauf sind sie dämpfend, bis hin zum Schlaf. Es kann dann schnell zum Herz- oder Kreislaufstillstand kommen. Die Effekte, wenn mehrere Mittel aufeinandertreffen, sind verheerend und nicht mehr kontrollierbar.

Kann ein Medikament wie Nemexin, das die Opiatrezeptoren besetzt, aus ärztlicher Sicht eine Hilfe bei der Behandlung sein?

Die Perspektive ist faszinierend. Es wäre möglich, zumindest den »Kick«, der durch die abrupte Besetzung der Rezeptoren entsteht, zu verhindern. Opiate wirken aber auch auf den gesamten Seelenhaushalt. Der läßt sich nicht allein durch die Besetzung oder Nichtbesetzung der Rezeptoren steuern.

In Deutschland gibt es so gut wie keine ernst zu nehmende Suchtforschung. Woran liegt das eigentlich?

20 Jahre restriktiver Drogenpolitik und die Ächtung von Rauschmitteln insgesamt haben dazu geführt, daß sich die Medizin des Themas nur ungern annimmt. Durch die Diskussion um die Substitution beginnt man aber jetzt umzudenken. Die Drogensüchtigen sind krank und müßten vor dem juristischen Zugriff geschützt werden. Ob sich das aber durchsetzt bei der konservativen Haltung der Medizin in Deutschland insgesamt, bezweifle ich. Interview: Burkhard Schröder

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