: Frühlingsgähnen
■ »Frühlingserwachen« von Wedekind in den Kammerspielen
Die Geheimnisse der Sexualität beherrschen die Gespräche und Phantasien der 14jährigen Jungen und Mädchen in Frank Wedekinds Stück. Einer von diesen »Pubertierenden« ist Melchior, der für seinen Freund Moritz eine »Aufklärungsschrift« verfaßt und bei einem schnellen Stelldichein auf dem Heuboden das Mädchen Wendla schwängert. Die Mutter von Wendla, die sich bisher sträubte, ihre Tochter aufzuklären, läßt eine Engelmacherin die »Bleichsucht« Wendlas kurieren, wobei diese stirbt. Moritz, der an der Schule sitzenbleibt und mit der Ignoranz und Kälte der Erwachsenenwelt konfrontiert wird, begeht Selbstmord. Da bei ihm die Aufklärungsschrift gefunden wird, verfügt die Lehrerschaft die Einweisung Melchiors in eine Erziehungsanstalt. Von dort flieht er auf einen Friedhof, wo Moritz und Wendla begraben liegen. Moritz steigt aus dem Grabe und versucht, Melchior in den Tod zu locken, doch dieser folgt einem »vermummten Herrn«, der ihm die Welt verspricht. — Die Bühne von Haitger M. Böken besteht aus einer diagonalen Wand mit übergroßem Fenster, an die eine ebenfalls diagonale Wand mit Altberliner Türen grenzt. Dazwischen befindet sich ein Hügel aus grünem Gras. Vorne an der Rampe stehen Pfeiler aus Eisen nebst Kettengliedern, wie man es von Toreinfahrten her kennt, und die ganze Bühne ist in eine Lichterkette aus roten und blauen Birnchen eingerahmt. Dieser nicht gerade geschmackvoll eingerichtete Raum gibt alsdann auch sein Geheimnis preis: Da man Geld oder Arbeit — bei diesem Stück mit seinen ständigen Ortswechseln nötigen — Umbauten sparen wollte, muß dieses Einheitsbühnenbild folglich alles auf einmal darstellen: Wohnzimmer, Heuboden, Wald, Straße, etc. Und daß dieses nicht funktionieren kann, dürfte selbst Grundschülern einleuchten. Doch der Clou an diesem Fallbeispiel mißverstandener Bühnenbildkunst sind die roten und blauen Lämpchen. Denn jedesmal, wenn »Mädchen« auf der Bühne sind, blinken sie rot, bei den »Bübchen« schließlich blau. Und dies zeugt nicht nur von beispielloser Einfallslosigkeit, sondern auch von falscher Einschätzung der Zuschauerintelligenz.
Die SchauspielerInnen versuchen krampfhaft und mit wild ausufernder Gestik, Vater, Mutter und Kind zu spielen, und bemühen sich, dem langen, nicht gestrichenen Text wenigstens ein paar von der Regie erzwungene Witzchen abzuringen. Doch vergeblich: niemand erreicht auf dieser Bühne auch nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit oder Charakterdarstellung. Zwar wird viel gezappelt und gepoltert und oft auch geschrien, doch kann dies nicht über die Plattheit der Ideen und das Versagen an der Umsetzung der Textvorlage hinwegtäuschen. Einzig Andreas Lachnit zeugt mit seiner Othello/ Blaubart-Szene für ein wenig Unterhaltung, und Ackie Murray würde man lieber den ganzen Abend singen hören, als sich die dargebotene gähnende Langeweile auch noch nach der Pause weiter zuzumuten.
Die Regie von Dietrich Hilsdorf bietet mit unverfrorener Chuzpe die besten Aussichten, Klassiker hassen zu lernen. Die Schauspielerführung ist miserabel, Dramaturgie gar nicht vorhanden, und die Regieeinfälle bei unter Null anzusiedeln.
Man kann nur hoffen, daß diese Produktion nicht als Pflichtübung für Schulklassen dienen wird, da dieser Einstieg in die Theaterkultur der denkbar schlechteste ist. York Reich
Weitere Aufführungen täglich bis auf sonntags um 19.30 Uhr in den Berliner Kammerspielen, Alt- Moabit 99.
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