: Langsamer Wandel hinter Mauern und Gittern
■ Das Gefängnis in Brandenburg zählte zu DDR-Zeiten über 2.000 Gefangene, heute sind es 500/ Eine Aufarbeitung der Vergangenheit steht noch aus/ Der neue Leiter kommt aus Nordrhein-Westfalen/ Die Gemäuer müssen saniert werden
Brandenburg. Die blaue Uniform aus DDR-Zeiten würde Gerd Krenz am liebsten sofort gegen eine neue eintauschen. Der 41jährige Leiter des »Allgemeinen Vollzugsdienstes« in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg weiß, daß seine Kollegen und er nicht gerade beliebt sind: »Der haftet ja irgendwas an«, sagt er. »Stasi- Schwein oder Rote Socke« — das sind noch die harmloseren Bezeichnungen, die ihm und seinen Kollegen von manchen Häftlingen an den Kopf geworfen wurden. Nun habe sich die Situation wieder normalisiert. Krenz, der 1976 im DDR-Strafvollzug anfing, steht die Unsicherheit und Resignation ins Gesicht geschrieben. »Auf jeden Fall ist es so, daß die Gefangenen mit weniger Respekt auftreten. Das bringt die persönliche Freiheit mit sich«, sagt er, und es klingt fast wie ein Bedauern. Eine neue Uniform ist aber für ihn so schnell nicht in Sicht — ebensowenig wie für die Gefangenen die neue Kluft, die die alte mit den seitlich und auf dem Rücken aufgenähten gelben Streifen ersetzt — aus finanziellen Gründen. Derzeit laufen die Überprüfungsverfahren anhand der Akten der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter, die unter anderem auch Vergehen von DDR-Gefängnispersonal auflistet. Ob er sich sicher sei, nicht auch eines Tages im Justizministerium zu einer Anhörung vorgeladen zu werden? Krenz blickt betreten zu Boden und antwortet ausweichend: »Jeder, der länger hier war, hat ja irgendwelche Reibungen gehabt«.
Bernd Richardt, der neue Anstaltsleiter, kommt aus Nordrhein- Westfalen, dem Partnerland Brandenburgs. Er ist seit Anfang Februar auf diesem Posten, nachdem er jahrelang die JVA Iserlohn geleitet hatte. Betont vorsichtig sondiert er das Terrain unter seinen Bediensteten. »Man kann sich viel mehr zumuten und auch zurückblicken, wenn man weiß, wohin man will«, faßt er die mangelnde Bereitschaft zur Vergangenheitsbewältigung zusammen. Die Stimmung sei nicht gut, Unsicherheit greife um sich. »Es besteht ganz stark das Gefühl, Täter und Opfer zu sein, dabei wird die Eigenverantwortlichkeit nicht so stark empfunden«, glaubt der 48jährige. Rund 400 Beschäftigte und 500 Gefangene, darunter 60 Untersuchungshäftlinge aus Potsdam, sind in der JVA Brandenburg. Die Belegungszahl soll später maximal 800 Gefangene betragen. Millioneninvestitionen sind notwendig, um die alten Gemäuer zu sanieren.
Richardt leitet nicht nur eines der größten, sondern auch geschichtsträchtigsten Gefängnisse im Land Brandenburg. Mit dem Bau wurde 1927 begonnen — eine Musteranstalt sollte es werden. Doch nach der Fertigstellung 1936 verwandelten es die Nazis in einen Ort des Schreckens. Über 1.700 politische Häftlinge wurden hier enthauptet. Der Nachbau der Guillotine steht noch heute in der Gedenkstätte, die sich im »Inneren Sicherungsbereich« hinter meterhohen Mauern und einem elektrisch geladenen Signalzaun befindet. Nach dem Krieg wurde das Gefängnis zeitweise von den Sowjets genutzt, dann ab 1950 von der DDR. Sie baute die Anlage gewaltig aus: 42 Hektar umfaßte das Gefängnis zuletzt, mit angegliederten Industrieanlagen, in denen ein Großteil der zu DDR-Zeiten einsitzenden 2.500 Gefangenen gegen Lohn arbeitete. Sie wurden nach der Wende in der Mehrzahl amnestiert oder vorzeitig entlassen. Ob es auch politische Häftlinge darunter gab — ernsthafte Nachforschungen fehlen noch.
Die einstigen Produktionshallen stehen heute zum Teil leer. Die früheren Kombinate haben sich zurückgezogen, stecken selbst in der Krise. Einst war das Gefängnis der drittgrößte Betrieb am Ort — heute ist rund ein Drittel der Langzeithäftlinge (in Brandenburg sitzen nur Häftlinge ab einer Strafbemessung von zwei Jahren) arbeitslos. Nur in einer Halle werden noch Möbel hergestellt — für die Justizverwaltung. In der Schlosserei hingegen bauen die Häftlinge derzeit ihre eigenen Gefangenentransporter; im »Reichsbahnausbesserungswerk« auf dem Gefängnisgelände reißen Häftlinge Waggons auseinander. Tageslohn für alle Tätigkeiten in den Eigenbetrieben der Anstalt: ganze acht Mark.
Im Rückblick wird von den Häftlingen manches der DDR-Strafjustiz auch positiv bewertet. Zumindestens von denen, die im Gefangenenblatt 'Unsere Zeitung‘ mitarbeiten. Etwa die Bereitstellung eines Arbeits- und Wohnplatzes für Strafentlassene oder die Übernahme von Schulden. Angst macht vielen die Arbeitslosigkeit, die draußen vor den Mauern auf sie wartet. Der 35jährige Holger Becher, wegen Mordes seit sechs Jahren in Haft, hat wie viele einen Antrag auf Überprüfung seines Urteils gestellt. Schon zweimal konnte er für Kurzvisiten nach draußen — in Begleitung zweier Zivilpolizisten. »Ich habe mich unsicher draußen gefühlt, habe gedacht, die Leute sehen mir das an. Meine Mutter hat zu mir gesagt, du redest ja ganz anders«, bekennt er offen.
Der 29jährige Redakteur Ralf Sommer, wegen Mordes vor sieben Jahren zu 15 Jahren verurteilt, macht noch ein weiteres Problem aus: »Es gibt kaum Organisationen für Strafentlassene außerhalb der Knastmauern in den neuen Ländern.« Im Gefängnis selbst hat sich der Alltag gewandelt. Während in der DDR die Gruppenzusammenlegung üblich war, können heute viele einzeln oder zu zweit in einer Zelle leben. In einem Teil der alten Anlage wird umgebaut. Vorgesehen ist hier die Unterbringung von Strafgefangenen in Wohngruppen, einer Art Wohngemeinschaft. Mit dem neuen Gefüge werden auch intern neue Sozialverhalten geprägt. Seitdem in jeder Zelle Fernseher und Radio erlaubt sind, leidet die Kulturarbeit der Gefangenen, wie Sommer erzählt: »Das Fernsehen ist eine Konkurrenz. Obwohl eigentlich nichts läuft, hängen komischerweise alle davor.« Lesungen oder Konzerte, von den Gefangenen organisiert, finden daher nur noch wenig Anklang. Auch der vor eineinhalb Jahren gegründete Gefangenenrat schrumpfte von zehn auf eine Person zusammen. Ihr Sprecher, der 41jährige Michael Schilling, vor 16 Jahren wegen Mordes inhaftiert, sieht den Grund in der Übernahme des neuen Strafvollzugsgesetzes: »Früher fanden nach der Wende regelmäßig Gespräche mit dem Leiter statt, das ist nicht mehr. Jetzt sind wir nur noch Staffage.«
Was bisher — im Vergleich zu westdeutschen Gefängnissen — kaum eine Rolle spielt, sind Drogenprobleme. Dafür aber wird kräftig getrunken, wie auch die Mitarbeiter der Gefangenenzeitschrift versichern. »Alkohol ist zwar verboten, aber Kirschen oder Pfirsiche tun es nach zehn Wochen Lagerung auch — du mußt nur Geduld haben«, erklärt Schilling unter dem Gelächter der anderen.
Einer der beiden westdeutschen Sozialarbeiter im Gefängnis ist Michael Ehlert. In seiner frisch renovierten Arbeitsstätte saß einst die Stasi. Unvergeßlich wird ihm sein Arbeitsantritt im letzten Sommer bleiben: »Da fand ich hier noch eine regelrechte militärische Hierarchie sowohl unter den Bediensteten als auch unter den Gefangenen vor, mit Schulterklappen und allem drum und dran.« Die ostdeutschen Gefangenen seien daher bescheidener und zuvorkommender. Im Westen, so Ehlert, kenne der Gefangene hingegen »recht gut seine Rechte« und habe daher eine »ganz andere Durchsetzungsmentalität«. Nun arbeitet Ehlert mit seinem Kollegen an einem neuen Konzept für die Anstalt. Sein Ziel ist es nicht nur, auswärtige Sozialarbeiter zu gewinnen und die Eigeninitiative der Gefangenen zu fördern, sondern vor allem auch leitende Bedienstete in die Sozialarbeit einzubinden. Keine leichte Arbeit, wie er weiß: »Intern müssen Strukturveränderungen notwendig sein, um die Sicht auf den einzelnen wieder zu ermöglichen.« Denn, so Ehlert: »Hier geht es im Grunde darum, den Gefangenen zu aktivieren, denn er muß sich draußen durchsetzen — und zwar knallhart.« Severin Weiland
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