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In Rußland packen die Deutschen ihre Koffer

Entgegen den offiziellen Meldungen hält der Zustrom der Rußlanddeutschen an/ Die neuen unabhängigen Republiken werben um die Deutschen, aber es gibt neue Risiken/ In der Ukraine bietet Präsident Krawtschuk Platz für 400.000 Neuansiedler  ■ Aus Friedland Anita Kugler

Die Hilfe der Bundesregierung für die Rußlanddeutschen beginne zu greifen, verkündete Horst Waffenschmidt, Staatssekretär und Bundesbeauftragter für Aussiedlerfragen, kürzlich in Bonn. Er meinte damit, daß der Aufbau deutscher Landkreise im Altaigebiet und bei Omsk gut vorangehe und viele Rußlanddeutsche sich deshalb entschieden, vorerst in Sibirien zu bleiben. „Der gegenüber dem Vorjahr deutliche Rückgang der Aussiedlerzahlen im Jahre 1991, der sich auch im Januar 1992 fortgesetzt habe, zeige, daß die Politik der Bundesregierung bei den Rußlanddeutschen auf Vertrauen stoße“, heißt es in der Zeitschrift 'Innenpolitik‘.

Dem ist mitnichten so. In Rußland packen die Deutschen ihre Koffer, der Zuzug hat im Januar mit 16.379 Personen einen neuen Monatsrekord erreicht. 1991 meldeten sich in den neun Grenzdurchgangsheimen 147.320 Rußlanddeutsche, ein Jahr zuvor waren es 147.950 gewesen. In den Aufnahmelagern stehen derzeit zwar Tausende von Betten leer, aber nur deshalb, weil kaum noch Aussiedler aus Polen und Rumänien kommen. Denn der Auszug der Deutschen aus Rumänien ist fast abgeschlossen, und in Polen kann seit Mitte 1989 die Deutschstämmigkeit nicht mehr durch die von den Nationalsozialisten erstellte „Volksliste3“ bewiesen werden.

Der Exodus der Deutschen aus Kasachstan und Rußland hält an, trotz der Unterstützung der Bundesregierung für die deutschen Rayons in einer Höhe von 200 Millionen Mark, trotz der inzwischen verzweifelt anmutenden Versuche Waffenschmidts, doch noch die Gründung der Wolgarepublik voranzutreiben, und trotz der Werbung des ukrainischen Staatspräsidenten Krawtschuk, die Deutschen sollten sich im Süden des Landes ansiedeln, denn beste Ackerböden ständen zur Verfügung. „Und was ist, wenn Krawtschuk morgen gestürzt wird?“, fragte in Friedland ein Anfang dieser Woche nach Deutschland gekommener Aussiedler.

Nicht die Hilfsmaßnahmen greifen, sondern die Gangster

Glaubt man den Rußlanddeutschen, die in Friedland, Bramsche oder Osnabrück frisch aus dem Altaigebiet oder Kasachstan ankommen, dann geht die Aussiedlerwelle in diesem Jahr erst richtig los. Über zwei Millionen Deutsche leben heute noch hinter dem Ural, in Südwest-Sibirien, in Kasachstan und Mittelasien, in Moldova oder in der Kaukasus- Region. 220.000 von ihnen haben den Aufnahmebescheid des Bundesverwaltungsamtes bereits in der Tasche, theoretisch könnten sie morgen kommen. Weder das am 1. Juli 1991 geänderte Aufnahmeverfahren, wonach die Antragsberechtigung im Aussiedlungsgebiet geprüft werden muß, noch das deutsche Engagement hinter dem Ural und im Altai-Gebiet hindern die Rußlanddeutschen daran, schon heute in den Zug zu steigen. Hinderlich sind einzig und allein die chaotischen Zustände in der zerfallenen Sowjetunion.

Übereinstimmend berichten die Neuankömmlinge, daß innersowjetische Flugtickets oder Zugfahrkarten zum Moskauer Airport nur mit erheblichen Schmiergeldern zu bekommen sind, daß Gangsterbanden in Moskau systematisch Ausreisegruppen ausplündern, daß am Don Kosakentrupps Frachtzüge überfallen, daß viele Ausreisewillige gezwungen werden, die Befreiung vom Militärdienst für ihre Söhne mit harten Devisen zu bezahlen, und daß lokale Behörden sich jeden Stempel mit Dollars honorieren lassen. Früher hätten die Auswanderer ihre Häuser und das Vieh für 100.000 Rubel verkauft, um davon Umzugsgut und Ausreise zu finanzieren. Heute sei „der Rubel nur Stroh wert“. Um an Devisen zu kommen, sei man gezwungen, alles bis auf das Hemd weit unter Wert zu verschleudern, der Erlös reiche aber in vielen Fällen nicht einmal bis nach Moskau. In Deutschland träfen derzeit nur die Aussiedler ein, berichteten Nina und Konstantin R. aus Alma Ata, die bereits ihr Gepäck im letzten Herbst auf die Bahn gaben. Die Angst vor der Mafia begleitet die Rußlanddeutschen bis in die neue Heimat. Aus Sorge, daß Angehörige in der alten Heimat erpreßt werden könnten, beklagen sie sich nicht bei den deutschen Konsulaten. Bestätigt werden diese Berichte von Sozialarbeitern in den Grenzdurchgangsheimen, auch das Rote Kreuz ist informiert.

Seit die kinderreichen Aussiedlerfamilien nicht mehr zur Rentensicherung gebraucht werden, sondern vor allem als Kostenfaktor ins Gewicht fallen, hat die Bundesregierung das Ruder in der Aussiedlerpolitik herumgeworfen. Vor allem seit der Wiedervereinigung. Jetzt sollen die Rußlanddeutschen möglichst bleiben, wo sie sind. Das trifft sich mit den Interessen der neuen unabhängigen Republiken, die um die fleißigen Menschen regelrecht buhlen und dabei gleichzeitig auf deutsche Wirtschaftshilfe hoffen.

Anfang Februar war der kasachische Wirtschaftsminister, der deutschstämmige Christian Driller, in Bonn. In seinem Land leben heute fast eine Million Rußlanddeutsche, fast die Hälfte von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft. Die Regierung hofft auf besondere deutsche Unterstützung im Agrar- und Nahrungsgüterbereich, die Lage der Deutschstämmigen soll durch ein Sonderprogramm verbessert werden. Mitte Februar erschien der Ministerpräsident von Kyrgistan, Peter Jordan, in Bonn, auch er ein Rußlanddeutscher, und bat um Hilfe beim Aufbau zweier Verwaltungsbezirke in Sikuluk und Tschuja. Nach Ansicht des Gießener Wirtschaftsexperten Klüter, der jetzt gerade eine Studie über die Lage der Deutschen in Osteuropa dem Bonner Innenministerium vorgelegt hat, werden aber die mittelasiatischen Republiken die zum großen Teil tiefreligiösen Deutschstämmigen auch mit vielen Versprechungen und Finanzhilfen nicht halten können. Denn in diesen Ländern reißen religiös-weltanschauliche Gräben auf, die in der offiziell atheistischen Sowjetunion nicht sichtbar gewesen waren. Der Islam, die traditionelle Religion der asiatischen Völker, ist auf dem Vormarsch und stellt sich gegen die ursprünglich von Westen her Eingewanderten, die Russen und die von Stalin 1941 in diese Gebiete deportierten Rußlanddeutschen. Beide Gruppen, die in den vergangenen Jahrzehnten nie eine Allianz bildeten, sollen wieder verschwinden. „Geht ihr in euer Deutschland zurück“, hörte eine Aussiedlerin von einem Kasachen, „mit den Russen werden wir alleine fertig.“

Statt an die Wolga zwischen Dnjepr und Bug?

In der vergangenen Woche flog Waffenschmidt in die Ukraine, um Krawtschuks Angebot der Rücksiedlung von 400.000 Deutschen in die Südukraine zu prüfen. Die Zahl ist nicht zufällig, etwa genausoviel lebten bis zur Deportation 1941 in der Schwarzmeerregion. Der zum Patrioten gewendete Ex-Kommunist hat für die Ansiedlung Gebiete bei Odessa, Nikolaije, Cherson und Saporoshje ausgeguckt, Regionen, in denen es einst acht Rayons mit deutscher Selbstverwaltung gab. Die Einzelheiten will Krawtschuk am 20.März mit den Präsidenten der anderen Republiken erörtern. Der Bundeskanzler ist bereits zur Einweihung der ersten Neubauten eingeladen. Das Angebot hat allerdings den Schönheitsfehler, daß in diesen Gebieten heute kaum mehr Deutsche leben, in der ganzen Ukraine gerade nur knapp 35.000. Es ist daher sehr fraglich, ob kasachische oder sibirische Bauern, die Haus und Hof verkaufen wollen, um nach Deutschland auszureisen, bereit sind, umzudisponieren und sich in die ukrainische Ungewißheit zu begeben. Zumal die Südukraine eine Hochburg der russisch-orthodoxen Kirche ist und die Mehrzahl der ausreisewilligen Rußlanddeutschen stramme Protestanten, Mennoniten und Baptisten sind. „Ein Volk muß man wie eine Persönlichkeit behandeln“, sagte ein Aussiedler, „und nicht wie eine Ladung Umzugsgut.“

Das ganze Gerede um Ukraine, Südwestsibirien, gelegentlich Königsberg und immer noch Wolga geht an den Bedürfnissen der meisten Rußlanddeutschen allerdings völlig vorbei. Sie wollen endlich nicht mehr Objekte im deutsch-russischen Menschengeschacher sein, sondern ihre Kinder, wie unzählige empirische Studien beweisen, als „Deutsche unter Deutschen“ aufwachsen lassen. In Friedland kommentierte ein Aussiedler das Tauziehen um Geld und Rußlanddeutsche folgendermaßen: „Die Politiker wollen doch alle nur Aktenmappen haben, und wir sollen sie dann tragen.“

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