: „The Girl from Ipanema“ wurde zur Blondine
Rio de Janeiro (taz) — Nicht Brasiliens berühmte Mulattinnen, sondern ausgewählte Blondinen haben beim diesjährigen Karneval in Rio für Aufruhr gesorgt. Zu den blonden Engeln hoch oben auf den Umzugswagen gehörten unter anderem Fernsehstar Xuxa, die ehemalige Geliebte von Fußballheld Pelé, und das „Girl from Ipanema“, das mit seinen wiegenden Hüften vor 30 Jahren den jungen Musiker Antonio Carlos Jobim zur Komposition des berühmten gleichnamigen Bossa Nova inspirierte.
Der Bossa Nova, die Schönheit der Stadt Rio de Janeiro und seiner Musen waren das Thema der traditionellen Sambaschule „Mangueira“ beim diesjährigen Karnevalsumzug. Komponist Antonio Carlos Jobim, dessen Lied Girl from Ipanema bereits in über 300 Versionen aufgenommen wurde, war die Hauptattraktion. Blickfang war das Mädchen aus Ipanema, das ihn einst zu der Liebeserklärung an die unnahbare Schönheit inspiriert hatte. Die Chancen, daß „Mangueira“ nach diesem Ausflug in die nostalgische Vergangenheit zur Karnevalskönigin gekrönt wird, sind groß: Denn nach 30 Jahren gehört der Bossa Nova zu Rio de Janeiro wie der Zuckerhut oder die Copacabana.
Nicht nur der Strand „Ipanema“ wurde durch das Lied weltberühmt. Der Bossa Nova verlieh der bisher rhythmus- und melodiebetonten brasilianischen Volksmusik mit seinen schrägen Harmonien etwas Gedämpftes, Expressionistisches. Das Girl from Ipanema, die mittlerweile 46jährige Elouisa Pinheiro, sollte nun die Aufbruchstimmung, die damals ganz Brasilien erfaßte, wieder aufleben lassen.
Und natürlich, wie könnte es in Rio de Janeiro anders sein, war es der Zauber des Karnevals, der dem Bossa Nova zum Durchbruch verhalf. Nach dem Film Black Orpheus von Marcel Camus, der das Drama von Orpheus und Eurydike in den Karneval nach Rio de Janeiro verlegte, wurden die romantischen Lieder Jobims zum Inbegriff für die Schönheit Rios und die Anmut seiner Bewohnerinnen. „Als ich 1962 in der Carnegie Hall in New York mein erstes Konzert gab, war der Bossa Nova in den USA schon bekannt“, erinnert sich der heute 65jährige Komponist.
Die romantischen Texte, verfaßt von dem brasilianischen Dichter und Diplomaten Vinicius de Morais, sind Balsam für die brasilianische Seele. Lebensfroh, licht und einfühlsam huscht die Poesie über soziale Barrieren hinweg und ergibt sich ganz und gar der Illusion des Karnevals: Zumindest von Rosenmontag bis Aschermittwoch stehen in Brasilien die Herrschaftsverhältnisse auf dem Kopf.
„Wieso kann ein Mädchen aus gutem Hause sich nicht in einen Bettler verlieben? Es ist doch Frühling“, kritisierte Vinicius de Morais die herrschenden Moralvorstellungen. Der Dichter, der insgesamt neunmal verheirat war, bekam die Vorurteile am eigenen Leib zu spüren: Mitte der sechziger Jahre wurde er vom brasilianischen Außenministerium entlassen, weil er sich angeblich nachts „trinkend und singend“ in den Bars von „Ipanema“ herumgetrieben hatte.
Dreißig Jahre danach hat der einschmeichelnde Bossa-Nova-Rhythmus zwar nicht seinen Charme, doch seine kindliche Unbefangenheit verloren. Elouisa Pinheiro, die Muse von „Ipanema“, schlendert heute nicht mehr jeden Morgen gemütlich zum Strand. Die Mitvierzigerin ist in die Metropole Sao Paulo umgezogen und leitet dort eine Fotomodellagentur. Ihre Hüften wiegt sie nur noch für die Kameras, die sie beim Karnevalsumzug begleiten, oder im Fernsehen, wenn sie in ihrer Sendung Unterhaltung im Badezimmer mit bekannten Persönlichkeiten im Whirlpool plaudert. Zart glänzt ihr Körper noch von der goldenen Sonne „Ipanemas“, wie einst Vinicius de Morais dichtete, doch die kastanienbraunen Haare mußten einer platinblonden Tönung weichen.
Für Brasiliens erfolgreichste Fernsehmoderatorin Xuxa, Jahrgang 1963, ist der Durchbuch des Bossa Nova bereits pure Nostalgie. Die blonde Fee war in diesem Jahr das Aushängeschild der Sambaschule „Beija-Flor“. Das ehemalige Fotomodell, das fünf Stunden pro Tag im Minirock zusammen mit einer Schar von Kindern auf dem Bildschirm herumtollt, zieht pro Woche zehn Millionen kleine Zuschauer in ihren Bann. Über 13 Millionen Bewunderer kaufen die Schallplatten der blauäugigen Kindfrau. Karnevalsprofi Joaozinho Trinta, Leiter der Sambaschule „Beja-Flor“, hat den Umzug auf die Herzensbrecherin der Kleinen zugeschnitten: Die brillanten Kostüme seiner rund 5.000 „Sambistas“ standen in diesem Jahr für die besten Sendungen des brasilianischen Fernsehens.
Die Invasion der Blondinen, Filmstars und Fotomodelle, mit denen sich die Sambaschulen schmücken, gleicht dem Eindringen des Fernsehens in jeden brasilianischen Haushalt. Statt der Realität bringen endlose Seifenopern Glanz in die größtenteils schäbigen Hütten der Zuschauer. Nun bemächtigen sich die Fernsehstars auch der Sambaschulen, die in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro, genannt Favelas, ihre Wurzeln haben. Die Aschenputtel, die sich einmal im Jahr in Prinzessinnen verwandeln, haben Konkurrenz bekommen. Astrid Prange
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