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GUIDO CERONETTI

Dandy, Gnostiker, Kriminophiler, Marionettologe, ja Syphilophilologe: so lauten einige der Etiketten, mit denen der brillante Sproß des Turiner Bildungsbürgertums in seiner Heimat bedacht wird. Der Ruch der Verruchtheit haftet ihm an — und er, der tatsächlich über die Syphilis meditiert hat, scheint diese Aura des „lasterhaften und lästigen Monsters“ (M.Gazzetti) zu genießen. Deutschen Lesern ist er noch weitgehend ein Unbekannter. Sie kennen ihn nur durch den großen, 1983 auf deutsch erschienenen Essay Das Schweigen des Körpers, der den Untertitel trägt: „Materialien und Gedanken zu einem Studium der Medizin“. Ceronetti rückt in diesem Buch in funkelnden Fragmenten, die an Baudelaires „fusées“ gemahnen, den Wahrnehmungsinstrumenten des Körpers mit Belesenheit und Besessenheit auf die Haut, unter die Haut. Es geht um die Nerven und Wirbel, Metastasen und Erkrankungen der Leber, Abtreibungen, Scheintote und die Beschaffenheit des Cunnilingus. Ceronettis Vorbilder bei seiner Buchführung aller Empfindungen des Körpers sind die Stoiker und Pessimisten, „nicht“ — wie Karsten Witte schreibt — „jene Philosophen, die es schon immer besser wußten, sondern jene, die es immer schon schlechter wußten“.

In Italien ist der 1927 geborene Ceronetti vor allem als Wissenschaftsjournalist und Essayist hervorgetreten. Seine Aufssatzbände Das Papier ist müde, Die schwärende Muse oder Das melancholische Monokel harren noch der Übersetzung ins Deutsche. Er selbst hat sich als hervorragender Übersetzer lateinischer und hebräischer Texte — von Martials Epigrammen, Juvenals Satiren, den Psalmen und dem Hohelied — einen Namen gemacht. Berühmt unter den Eingeweihten ist auch sein vor mehr als 20 Jahren gegründetes Marionettentheater „Teatro dei Sensibili“. Die Aufführungen, die in der eigenen Wohnung in Turin und später in der Nähe von Rom stattfanden, konnten immer nur von zehn, zwölf Personen besucht werden. Pasolini, Bertolucci, Natalia Ginzburg fanden sich ein, wenn Ceronetti seine von ihm selbst modellierten Puppen bewegte oder auch einmal sang.

Neben dem Philosophen, dem Philologen, dem Journalisten, dem Theatermacher war Ceronetti immer auch Lyriker. Der 1987 von Einaudi herausgegebene Sammelband Compassioni e Disperazioni, Tutte le Poesie legt davon Zeugnis ab. Er selbst bezeichnete die Dichtung als seine Hauptbeschäftigung und sagte einmal, sie verhalte sich „wie ein Asket in der Wüste, der sich aufteilt und durch die Städte streunt auf der Suche nach Anhängern“. Die Verse sind oft dunkel, unklar in ihrer Struktur, Sinn blitzt auf und verliert sich wieder. Sie erinnern mich an Zeilen von Artaud, an die Gedichte von Laure, Batailles Gefährtin. Mehr als alle anderen Äußerungen von Ceronetti führen sie eine vor Verlangen unglückliche Seele vor. Joachim Sartorius

Kurzbibliographie:

Guido Ceronetti: „Das Schweigen des Körpers“, Frankfurt 1983

Guido Ceronetti: „Compassioni e Disperanzioni. Tutte le Poesie, 1946-1986“, Turin 1987

Eine sehr gute Einführung in Person und Werk gibt der Essay von Maria Gazzetti: „Dichter, Essayist, Marionettologe“ in 'Rowohlts Literaturmagazin‘ 28/1991. Im gleichen Heft befindet sich ein Aufsatz Ceronettis „Meine Marionetten“ mit Fotos von seinem „Teatro dei Sensibili“.

Alle Gedichte auf dieser Seite sind deutsche Erstveröffentlichungen. Maria Gazzetti hat sie aus dem Italienischen übertragen.

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