: Morgenthau an der Ostsee
■ Es gibt keine verantwortbare Alternative zur Sanierung der ostdeutschen Werften
Morgenthau an der Ostsee Es gibt keine verantwortbare Alternative zur Sanierung der ostdeutschen Werften
Nachdem das aufgeregte Oberflächengeplänkel der Koalitionskrise in Mecklenburg- Vorpommern überstanden ist, naht jetzt die Stunde der Wahrheit für die ostdeutschen Werften. Dabei wird nicht über die Sessel von einigen mehr oder weniger kompetenten Politikern entschieden, sondern über die wirtschaftliche Perspektive einer ganzen Region. Denn betroffen sind nicht nur die 20.000 Menschen, die noch auf den Werften arbeiten, sondern auch all jene, die von dieser industriellen Schlüsselbranche des deutschen Nordostens irgendwie abhängig sind. Und das sind die meisten in den ostdeutschen Küstenstädten mit ihrer industriellen Monostruktur. Die westdeutschen Branchenkrisen der vergangenen zwanzig Jahre waren in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Brisanz ein Kinderspiel gegenüber dem, was an der Ostseeküste ansteht. Das muß jeder Politiker, jeder Treuhand-Manager wissen, der in den nächsten Wochen über das Schicksal der Werften entscheidet.
Drei Branchen prägen die wirtschaftliche Struktur des ärmsten deutschen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern: die Werftindustrie, die Landwirtschaft und der Tourismus. Eine reelle, aber arbeitsmarktpolitisch recht begrenzte Wachstumschance hat nur der Tourismus. Die Landwirtschaft befindet sich in einer tiefen Strukturkrise. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze fallen weg. Und die Werften treffen auf einen verstopften Weltmarkt, in dem der traditionelle Schiffbau längst in die Schwellenländer abgewandert ist. Allein dem Markt überlassen, hätten die Ostseewerften nicht die Spur einer Chance. Nur wenn sie auf Hochtechnologie-Produkte umrüsten, kann der Standort gehalten werden. Die Entscheidung der nächsten Wochen ist, ob diese milliardenschwere Sanierungsaufgabe gewollt wird oder nicht.
Das ist keine Entscheidung in den üblichen Dimensionen der Treuhand-Privatisierungspolitik, in der die Investoren je nach Interessenlagen den Erhalt von mehr oder weniger Arbeitsplätzen zusichern und danach den Zuschlag bekommen oder nicht. Niemand kann die endlose Finanzierung unrentabler Branchen durch die öffentliche Hand wollen. Aber wenn man schon nur vom Geld und nicht über die Menschen redet: auch massenhafte Arbeitslosigkeit kostet öffentliches Geld in Milliardenbeträgen. Im Fall der ostdeutschen Werftindustrie kann das nur heißen: es gibt keine wirtschafts- und sozialpolitisch verantwortbare Alternative zur Sanierung, Modernisierung und Standortsicherung. Auch die westdeutsche Werftenkrise wurde nicht nur nach Rentabilitätskriterien bewältigt, sondern durch ein hohes Maß an staatlichem Engagement. Wer den ostdeutschen Werften das verweigert, betreibt die Morgenthauisierung des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Martin Kempe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen