: „Radio Trottoir“ hat diesmal geirrt
Verbot der „Islamischen Heilsfront“ traf AlgerierInnen unerwartet/ Junta setzt auf Repression/ Islamisten haben nun keine Argumente mehr, um ihre Anhänger zum Stillhalten zu überreden ■ Von Oliver Fahrni
„Ein Verbot der FIS? — Keine Chance. Ausgeschlossen!“ „Radio Trottoir“, die unveröffentlichte Meinung in Algier, war noch am letzten Samstag einstimmig dieser Auffassung: Niemand mochte glauben, Juntachef General Nezzar werde die Repression in Algerien bis zu einem Verbot der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) treiben, der einzigen Partei mit einer breiten sozialen Basis. „Unwahrscheinlich“, sagte auch ein hochrangiger algerischer Diplomat, „daß das Regime diesen Fehler begeht. Die Islamisten sind nicht einfach eine Partei, sondern eine soziale Realität. Nezzar kann nicht das Volk verbieten. Er hat bei fast allen Demokraten seinen Kredit aufgebraucht. Sein Wirtschaftsprogramm wurde kritisiert, die Regierungsumbildung war ein Schlag ins Wasser. Das ist meine Privatmeinung. Aber zumindest im Außenministerium teilt man sie. Und die ausländischen Kreditgeber mahnen zur Öffnung.“ Mohammed Boudiaf, der Präsident des „Hohen Staatskomitees“ und Aushängeschild der Junta, hatte diese Vermutung bestärkt und unverhohlen ein Verbot der FIS ausgeschlossen. Worauf die abgetauchten letzten FIS-Chefs in Freiheit prompt mit mehrmaligem Gesprächsangebot reagierten und sich weiterhin bemühten, ihre Basis ruhigzuhalten.
Doch Anfang der Woche häuften sich die Indizien, daß die Junta die Islamistenbewegung endgültig zerschlagen will. Wenn man die Stimmen der FIS und der algerischen „Hamas“ zusammenrechnet, war es diese Bewegung, die im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen Ende Dezember von weit über 50 Prozent der Algerier gewählt wurde. In den letzten Nächten vor dem Ramadan, der gestern begann, verstärkten die Truppen von Innenminister General Belkheir ihre Menschenjagd in den Arbeiterquartieren. Bei Verhaftungen wurden Wohnungen verwüstet, Familienmitglieder von abgetauchten Islamisten zusammengeschlagen oder als Geiseln genommen. In Illizi, weit im Süden an der Grenze zu Libyen, wurde ein fünftes Internierungslager eröffnet. Mehr als 1.500 StudentInnen des „Komitees für die Achtung des Volkswillens“ verschwanden in den Wüstencamps — sie hatten letzte Woche einen weithin befolgten Boykott der Examen durchgeführt. Praktisch alle großen Universitäten wurden geschlossen. Und jetzt dehnt die Junta ihre Repression auch auf die gemäßigte Islamistenorganisation „Hamas“ aus: Greiftrupps des Innenministers verhafteten 40 Hamas-Kaderleute.
Die FIS suchte das Ärgste mit einer Drohgebärde zu verhindern. Im „Kommuniqué Nummer 20“ schrieben sie, ein Verbot liefere Algerien einer „ungewissen Zukunft“ aus.
Der Entscheid des Verwaltungsgerichtes vom Mittwoch, die Islamistenpartei aufzulösen, zerstört die letzte legale Klammer, die die widerstrebenden islamistischen Kräfte zusammengehalten hat. Die einzelnen Teile der Bewegung werden jetzt ihre eigenen Wege gehen — vom klandestinen Wiederaufbau der FIS bis zur Guerilla. „Das Wort“ schreibt die FIS, „ist nun dem Volk zurückgegeben, das andere Mittel finden wird, die Unterdrücker zu bekämpfen.“
Das Verbot der FIS zeigt, wie isoliert die Junta ist und wie machtlos Mohammed Boudiaf, der bei vielen AlgerierInnen den Ruf der Unbestechlichkeit genoß. „Tritt Boudiaf nicht sofort zurück“, schreibt ein algerischer Kommentator, „verliert er jede Glaubwürdigkeit. Oder war alles nur Doppelzüngigkeit?“ Die algerische Presse, den Putschisten zunächst freundlich gesonnen, gerät nun doch in Bewegung. Sie fragt sich etwa, was aus den Zehntausenden politischen Gefangenen in der Wüste wird. Ab April wird es in diesen Regionen über 50 Grad. Trotzig antwortete ein Regierungssprecher, man überlege sich, die Internierungscamps in Arbeitslager umzuwandeln. Bisher wurde nur der regierungsnahen Menschenrechtsorganisation der Besuch gestattet, die unabhängige Menschenrechtsliga blieb außen vor.
Derweil sprach Ali Haroun, Mitglied des „Hohen Staatskomitees“ auf PR-Tour in Europa: „Der demokratische Prozeß geht weiter. Nichts, was in Algerien geschieht, ist illegal oder verfassungswidrig.“ Harouns Lüge diente dem Investitionsklima. Er warb letzte Woche in Brüssel für eine schnelle europäische Finanzhilfe. Mit Erfolg: Am Mittwoch unterzeichneten, gut auf das Verbot der FIS abgestimmt, acht internationale Banken federführend für mehr als 230 Kredithäuser in Paris ein 300-Seiten-Protokoll, das Algerien einen Kredit über 1,45 Milliarden Dollar und eine „Gnadenfrist“ von drei Jahren einräumt. Damit kann die Junta ihren lahmenden Schuldendienst über acht Jahre verteilen und vermeidet die Umschuldung durch den Internationalen Währungsfonds. Die Banken machten aber klar, daß sie nur widerwillig und unter „starker Ermunterung“ durch die Regierungen ihr Scheckbuch zückten. Der Kredit ist offenbar in einen Gesamtplan eingebunden. Die Junta braucht für ihren Wirtschaftsplan mindestens fünfmal soviel Geld.
Aber selbst mit acht Milliarden Dollar ist ungewiß, ob sie der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen kann. Schon jetzt sind in den großen Staatsbetrieben Massenentlassungen geplant, einige Fabriken sollen geschlossen werden. Die sozialen Folgen werden verheerend sein. Die Stunde der Wahrheit schlägt spätestens am 1.April, dem Ende des Ramadan. Dann will die Junta auf Geheiß des IWF die letzten Subventionen von Grundnahrungsmitteln streichen.
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