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„Mi smo Walter — Friede für Bosnien“

50.000 demonstrierten am Donnerstag abend in Sarajevo für ein unabhängiges, friedliches Bosnien/ Die Gegensätze zwischen den Volksgruppen wurden zumindest vorübergehend überdeckt  ■ Aus Sarajevo Roland Hofwiler

„Mi smo Walter“, „Wir sind alle Walter“. Unter diesem Motto versammelten sich am Donnerstag an die 50.000 Sarajevoer, um für Frieden und nationale Verständigung zu demonstrieren. Seit den gewalttätigen Zwischenfällen Anfang der Woche hat sich das Leben in Sarajevo verändert. Es kommen mehr Waren in die Regale als die Wochen zuvor, die Menschen schlendern wieder durch die historische Altstadt, in den Discos herrscht bis spät nachts Leben. Eintritt frei, Preise so niedrig wie selten zuvor. Es gibt Stimmung in Sarajevo für ein friedliches Miteinander. Kroaten, Serben, Muslimanen, Albaner, Roma, alle gemeinsam?

„Wir sind alle Walter“ — was soll dieses Motto? Hinter „Walter“ versteckt sich kein anderer Name als der des kommunistischen Staatsgründers Jugoslawiens, Josip Broz Tito. Es war sein Deckname als Partisan im Zweiten Weltkrieg. Doch „Walter“ steht in Sarajevo auch für einen radikal-oppositionellen Protest. Denn als Tito das Nachkriegsjugoslawien mit eiserner Hand regierte, bildete sich hier im multikulturellen Schmelztiegel eine Alternativszene, die sich „Walter“ nannte und den real-existierenden Sozialismus verspottete. Die Spät-68er Szene nannte man die „Walter-Freaks“. Und sind sie es, die heute eine Renaissance erleben?

Dzindzer, Gitarrist der legendären Rock-Band „Riblja Corba“, kann dieser Nostalgie nichts abgewinnen. Er ging auch auf das Peace- Happening und lacht, als er seine eigenen Songs über die Lautsprecher dröhnen hört. „Fuck off, diese good- time music überdeckt nur, was hier unter der politischen Decke an Bruderkrieg abläuft.“ Er ist fast verbittert. Als sie zuletzt 1987 den Hit „Die Mafia“ aufnahmen, boykottierte vor allem Radio Sarajevo das Lied und forderte, die Band-Mitgliedern wegen „staatsfeindlicher Propaganda“ einzusperren. Der Text, der nun fünf Jahre später über die abendliche Stille von Sarajevo dringt, lautet: „Lieber Polit-Genosse, was ist mit dir, warum forderst du mich auf, Teil der Mafia-Kaste zu werden... Eines sei gesagt: Ich werde niemals Mitglied euerer Mafia-Gang“.

„Die haben doch nichts gelernt“, versucht Dzindzer seine Gefühle auszudrücken, „einst waren sie Kommunisten und jetzt sind die gleichen Herren die nationalen Führer.“ Für ihn ist klar, Alija Izetbegovic, der Führer der muslimanischen Partei, wolle nur mit diesem Massenaufmarsch seine eigene Macht festigen. Es sei eine abgekartete Szene gewesen, wie der Präsident als erster durch die Straßen ging und den Menschen zurief: „Schließt euch nicht in eueren Häusern ein, kommt heraus, laßt nicht die Waffen sprechen, sondern die Sprache der Freundschaft.“

Doch die Mehrheit der Menschen strahlt Zuversicht aus an diesem Abend. Ein Gymnasiallehrer kam mit seiner ganzen Schulklasse ins Zentrum, um rockigen Melodien, Gedichten und Reden liberaler Politiker zu lauschen. Lehrer Popovic, ein Serbe, gibt sich kämpferisch: „Man könne doch nicht zulassen, daß ein paar hundert Barrikadenkämpfer die Stadt terrorisierten. Bosnien ist unteilbar und kann nur als ein Vielvölkerstaat den Weg nach Europa finden.“

Friede, Freude, Völkerverständigung? Kann man jetzt wirklich von einem Sieg der Gewaltlosigkeit sprechen? Sind 50.000 Sarajevoer, die für Frieden und Völkerverständigung demonstrieren, eine neue politische Kraft? Goran Bregovic, Filmkomponist und Besitzer eines Tanzschuppens, ist gedämpft optimistisch: „Wir alle wissen, das ist ein historischer Augenblick für Sarajevo, werden wir ein moderner, multikultureller Staat, oder, wie man hier sagt, versinken wir in einem ,chaotischen bosnischen Eintopf‘? Ich glaube, dem kann sich niemand entziehen, und deshalb sind wir noch immer hier und hoffen.“

Hoffnung und Angst zugleich haben die einen, Haß und Militanz prägen die Köpfe der anderen. Auf beides stößt man in diesen Tagen in Sarajevo: Auf Menschen, die sich als Bosnjer fühlen und denen die nationale Herkunft als Kroaten, Serben oder Muslimanen zweitrangig ist, und auch jene, für die die nationale Stunde gekommen ist und die mit den Mitteln der Gewalt ihre nationalstaatlichen Träume durchsetzen wollen. Wie sich diese beiden Lager versöhnen werden, das ist nur eine der offenen Fragen, die niemand zu beantworten wagt. Am Wochenende treffen sich Vertreter der Volksgruppen in Brüssel bei der EG-Friedenskonferenz, um über die — gemeinsame? — Zukunft zu beraten.

Rockstar Dzindzer bleibt Pessimist: „Sogar der ,alte Walter‘ hat es fertig gebracht, auf Rockkonzerte zu gehen, und denk' nur an 68, da ließ er gegen den Vietnam-Krieg und den Einmarsch in Prag demonstrieren. Mit der einen Hand hat er Frieden gepredigt, mit der anderen schon damals Panzer im Kosovo auffahren lassen.“ Und damals wurde Alija Izetbegovic, der heutige Präsident Bosniens, erstmals von den Kommunisten als „islamischer Fundamentalist“ inhaftiert. Was mag es da bedeuten, daß der Präsident nun die Parole ausgab: „Wir alle sind doch Walter“?

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