Standbild: Elend als Naturzustand
■ "Zeil um 10", Freitag, 22.00 Uhr, Hessen 3
Nehmen wir die Hand von Wim Thoelke. Das ist eine besondere Hand. Sie gehört zum Restkörper eines Quizmasters, der seit 20 Jahren via Mattscheibe die Wohnstuben der nationalen Erinnerung bewohnt. Sprache, Auftreten und Gesten dieses Mannes sind intimer Bestandteil jenes Zeichenvorrates, der die Erfahrung einer fernsehsozialisierten Generation durchwirkt hat. In seinen archetypisch gewordenen Quizsendungen Drei mal Neun und Der große Preis brillierte Thoelke stets mit jener sublimen „Menschlichkeit“, mit der er seine Kandidaten ernst nahm. Millionen hatten das Gefühl: Dem Mann kann man vertrauen. Noch die belangloseste Frage an seine Kandidaten transportierte eine universelle Harmonie aus der Resonanz jener wohlmeinenden Gesten, in die jede seiner Äußerungen gebettet war.
Müßte dieser Thoelke sich beim verstorbenen Robert Lembke fragen Was bin ich, so könnte der Quizmaster seine ganze Persönlichkeit in einer einzigen Handbewegung vollends ausdrücken. Genau jene Handbewegung, die Thoelke in der Talk- Show Zeil um Zehn gegenüber seinem Kandidaten Bernt Engelmann wieder einmal vollführte. Die mühselig in Gang gekommene Diskussion drehte sich zu dieser Zeit um die Ausbeutung der dritten Welt durch die Industriestaaten. Daran glaubt Thoelke nicht. Kann es denn nicht sein, fragt der Quizmaster in seiner unnachahmlichen Art zwischen aufrichtiger Naivität, kreativer Unsicherheit und telegener Herrschsucht, daß dort „Elend ein Naturzustand ist“? Vielleicht haben wir die dritte Welt nur noch nicht „aus dem Elend herausgeholt“! Hier geschah es. Ein Moment unglaublicher Klarheit. Heidegger würde sagen, eine „Lichtung“. Mit seinem starken Arm vollführte Thoelke besagte Handbewegung. Eine Handbewegung, die inbrünstig bedeutete, daß er den bis zum Hals im Sumpf Steckenden kraftvoll ans Ufer hilft. Verbunden mit dem geäußerten Satz in einer Weise, daß (alle) Fernsehzuschauer erschüttert sind vor so viel aufopfernder Hilfsbereitschaft (die darin gipfelte, daß Thoelke ad hoc einen Hilfsfonds für die dritte Welt einrichten wollte).
Ein Lidschlag, so beten Kritiker nach, die keine Ahnung von Film haben, sagt mehr als zehn Seiten Text. Die Thoelkesche Geste ist ein solcher „Lidschlag“ des Fernsehens. Unzählige Seiten Text werden mit Thoelkes schlafwandlerischer Geste in einem Augenblick ins Hirn der Zuschauer gestanzt. Seiten, die man hinterher mühsam entziffern muß. Der Witz ist: Fachmann für die Feinstruktur der dazu notwendigen investigativen Akribie ist gerade Bernt Engelmann, an den Thoelkes Geste gerichtet war. Talk-Master Wolfgang Korruhn hatte Engelmanns Tätigkeit vorher auf den Punkt gebracht. Jeden Tag geht der kritische Buchautor zu Hause an sechs Meter investigativer Literatur vorbei, die er veröffentlicht hat. Dieses diskursive Universum wird von Thoelke mit einer einzigen tapsigen Geste hinweggewischt wie eine in Staub geschriebene Nachricht: alles Lüge. Manfred Riepe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen