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Euro-Spekulanten

Den Brüsselern wird das Dach über dem Kopf abgerissen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„Les Marolles“, seit dem Mittelalter die freie Kommune im Süden Brüssels: Für die einen ist sie die übriggebliebene Seele der werdenden Hauptstadt Europas, für die anderen ein Zufluchtsort für Lumpensammler und Lumpenproleten. Doch die Zeiten der Beschaulichkeit gehen auch hier vorüber. Denn selbst das Maroller Gewirr von Gassen und vermodernden Häuschen wird seit einiger Zeit von Baukränen überragt. Das Brüsseler Armenviertel soll saniert werden. Aber mit dem Geld kommen auch die Spekulanten und Eurokraten.

Daß nicht diese, sondern die Bewohner von Marolles in den Genuß des Renovierungsprogramms kommen, dafür setzt sich Ingeborg de Blende ein. Mit Freunden zusammen startete sie vor zwei Jahren die „Aktion Matratze“. Mehrere Monate lang schliefen einige Dutzend Menschen auf der Straße, weil sie von der Stadt Brüssel aus ihren Häusern geschmissen worden waren. Grund: Die Häuser seien „ungesund“. „Doch statt die Häuser zu renovieren“, kritisiert die Sängerin und Aktivistin, „überließ die Stadt sie den Spekulanten.“ „Die richten die Häuser mit viel Geld her und dann lassen sie andere Leute rein, aber Leute mit viel Geld. Wir aber fordern, daß die renovierten Wohnungen billig an die ursprünglichen Bewohner vermietet werden.“ Die Brüsseler Stadtväter haben allerdings anderes im Sinn: Um den Titel „Hauptstadt Europas“ zu ergattern, lassen sie zur Zeit bauen, was die Maschinen halten. Weil Büroräume um ein vielfaches lukrativer sind als Wohnungen und kleine Geschäfte, werden wahllos Jugendstilhäuser, Parks und ganze Häuserzeilen plattgewalzt und mit Bürotürmen bepflanzt. Knapp 20.000 Wohnungen sind dem Hauptstadtwahn bereits zum Opfer gefallen. Etwa 30.000 weitere stehen leer und warten auf den Abriß. Dieser Zerstörungsprozeß ist einmalig in der Geschichte Brüssels, das vom Zweiten Weltkrieg vollkommen verschont geblieben war. Folge: seit 1988 sind die Mieten um bis zu 30 Prozent gestiegen.

Wohl deshalb fühlen sich viele Brüsseler von Europa stiefmütterlich behandelt. Zwar geben die Eurokraten, die mit Familien und anderem Anhang gut und gerne 40.000 Leute umfassen, einen Großteil ihrer relativ hohen Einkommen in der Millionenstadt aus. Weil damit aber auch die Preise nach oben getrieben werden, profitieren in erster Linie die Geschäftsleute und Vermieter. Folge: Die Begeisterung über die feinen Gäste ist gespalten. Schließlich müssen ihnen zuliebe Tausende von Brüsselern ihr Heim räumen. Neuester Fall: 1.700 Menschen sollen mangels Alternativwohnungen auf die Straße gesetzt werden, weil der Südbahnhof ausgebaut wird, um dem als Eurokraten-Kutsche bezeichneten Hochgeschwindigkeitszug TGV Platz zu machen.

Für den einzigen Belgier im Kreise der 17 EG-Kommissare ist dies allerdings kein Grund zur Aufregung. Karel van Miert ist in der Gemeinschaftsbehörde für Verbraucherschutz und Verkehr zuständig: „Ach man soll das nicht übertreiben. Hier müssen die Brüsseler Behörden das Notwendige tun, damit die kleinen Schwierigkeiten, die es von Zeit zu Zeit gibt, beseitigt werden. Aber sozialer Wohnungsbau hat ja leider in den letzten zehn Jahren nicht mehr stattgefunden.“ Wie wahr: Rund 60 Prozent der Brüsseler Haushalte hätten auf Grund ihres Einkommens Anspruch auf eine Sozialwohnung. Tatsächlich kommen aber nur etwa acht Prozent in den Genuß einer solchen Wohnung. Dafür wurde jedoch — nach wachsenden Protesten von Mietervereinen — 1990 das Mietrecht zugunsten der Mieter korrigiert. Mietverträge können jeweils über den Zeitraum von drei, sechs oder neun Jahren ausgehandelt werden. In dieser Zeit darf der Vermieter nun die Miete nur entsprechend der Inflationsrate erhöhen. Wenn der Mietvertrag allerdings abgelaufen ist, kann die Miete ungehindert aufgestockt werden.

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