: „Frauen lassen ihre Aggressionen nicht raus“
■ Angst vor Stigmatisierung, fehlende Lobby und Sorge um die Familie treiben HIV-infizierte Frauen stärker in die Isolation als Männer
Frankfurt (ap/taz) — Die Frau, die regelmäßig in die Münchener Schwerpunktpraxis für Aids-Patienten kommt, hat sich nur der Ärztin anvertraut. Weder ihre Kinder noch ihre engsten Freunde wissen von ihrer tödlichen Erkrankung. Sie war selbst lange ahnungslos; erst als ihr Mann erkrankte, erfuhr sie von seinen Kontakten zur Schwulenszene, seiner HIV-Infizierung und ihrer eigenen Ansteckung. Die Frau versorgt weiter ihre Familie, pflegt den kranken Mann — und bleibt mit ihren Ängsten weitgehend allein.
Die Angst vor Stigmatisierung, die fehlende Lobby, die Sorge um die Familie, der oft unerfüllbare Wunsch nach Kindern — all dies treibt HIV-infizierte Frauen nach Erkenntnissen von Ärzten und Soziologen weitaus stärker in die Isolation als Männer. „Aids potenziert die vorhandenen geschlechtsspezifischen Probleme von Frauen“, sagt Beate Leopold vom Sozialpädagogischen Institut in Berlin. Gemeinsam mit einer Kollegin hat die Diplomsoziologin die wissenschaftliche Begleitung für das Modellprojekt „Frauen und Aids“ des Bundesgesundheitsministeriums übernommen.
Im Zuge dieses Projekts, das auf die Entwicklung von speziellen Vorbeuge-, Beratungs- und Betreuungsprogrammen abzielt, haben Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter seit Anfang 1989 in dreizehn bundesdeutschen Städten mehr als 1.000 Frauen betreut. Die Experten wurden dabei mit Problemen konfrontiert, die in der öffentlichen Diskussion um die tödliche Immunschwäche kaum eine Rolle spielen — beispielsweise der meist unerfüllbare Wunsch infizierter Frauen nach Kindern.
Der Statistik zufolge liegt das Risiko, daß eine infizierte Mutter ein HIV-positives Kind zur Welt bringt, bei dreißig Prozent. In der Regel wird den Frauen deshalb von einer Schwangerschaft abgeraten. „Gerade die absehbare Endlichkeit des eigenen Lebens beschleunigt jedoch oft den Kinderwunsch“, sagt Leopold. „Eine solche Empfehlung ist deshalb sehr einschneidend für die ganze Lebensperspektive.“ Viele Frauen ziehen sich nach den Erfahrungen der Betreuer zunächst völlig von Freunden und Bekannten zurück, bleiben sexuell deutlich länger abstinent - und werden viel öfter von ihren männlichen Partnern verlassen als infizierte Männer von ihren Frauen.
„Wir erleben oft eine totale Sprachlosigkeit“, berichtet Eva Jägel-Guedes. Die Ärztin, die seit zwei Jahren mit dem Aids-Spezialisten Hans Jäger eine Schwerpunktpraxis für HIV-Infizierte in München betreibt, hat vor einiger Zeit versucht, Patientinnen mit Hilfe eines Gesprächskreises aus ihrer Isolation herauszuholen. „Aber die Frauen konnten nur sehr schwer miteinander reden“, erzählt sie. Während Aids beispielsweise bei Homosexuellen zu Solidarisierung und Emanzipation geführt habe, fehle Frauen immer noch eine Lobby.
Gleichzeitig hat Jägel-Guedes beobachtet, daß die Nachricht von der Infizierung oft zum Rückfall in „typisch weibliche Reaktionsmuster“ führt. „Infizierte Männer verlagern die Schuldzuweisung nach außen, auf den konkreten Partner; Frauen dagegen lassen ihre Aggressionen nicht raus. Sie üben auch dann noch Solidarität mit dem Partner, wenn sie wissen, daß er sie belogen und angesteckt hat.“ Die Ärztin hat zwei Patientinnen, die sich über ihre Ehemänner infiziert haben. Beide Frauen haben erst dann von dem bisexuellen Doppelleben ihrer Partner erfahren, als diese schließlich an Aids erkrankten. Eine Trennung kam für sie trotzdem nicht in Frage. „Die Sorge um die Familie steht bei vielen infizierten Frauen im Vordergrund. Die Angst um das eigene Leben kommt oft viel später.“
Jede vierte der 605 Frauen, die nach der Statistik des Bundesgesundheitsamtes bis Ende Januar in Deutschland an Aids erkrankt waren, gab als wahrscheinliche Infektionsursache heterosexuelle Kontakte an. Dagegen haben sich den Angaben zufolge nur 2,8 Prozent der 7.053 aidskranken Männer über Sexualkontakte zu Frauen angesteckt — ihr Infektionsrisiko liegt hier nach einer US-amerikanischen Studie bei 1:700 bis 800, während Frauen mit einer Ansteckungswahrscheinlichkeit von 1:500 ein deutlich höheres Risiko eingehen. Ende 1991 waren in der Bundesrepublik 7.548 infizierte Frauen registriert.
In Berlin ist im Juni 1990 der Verein „Abseits“ gegründet worden, der sich speziell an heterosexuelle HIV- Infizierte und Aidskranke wendet. Viele Betroffene fühlten sich bei den etablierten Aidshilfen und Selbsthilfegruppen nicht richtig aufgehoben, weil diese ihre Arbeit in erster Linie auf Risikogruppen wie Homosexuelle, Fixer und Prostituierte ausrichteten, erklärt Vereinsgründer Gerd- Reiner Schmelzer. „Dabei ist es offensichtlich, daß Aids mittlerweile auch die normale Hausfrau treffen kann.“
Unter den 50 Betroffenen, die zu „Abseits“ festen Kontakt halten, sind 30 Frauen. „Der Anteil hat ganz deutlich zugenommen“, betont Schmelzer. Anfang April will der Verein in ein Gesundheitszentrum umziehen und dann wöchentlich ein festes Gruppenprogramm anbieten: „Wir müssen die Isolation aufbrechen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen