: Fernweh und Wüstenrot
Das Dharma der modernen Mobilität ■ VON CLETUS OSSING
Was bringt mit Gehirn versehene Wesen dazu, sich, vierzig Zentimeter über der Straßenoberfläche befindlich, in einem (physikalisch gesehen) anderen Relativsystem namens Automobil mit 120 Stundenkilometern durch die Welt zu bewegen, mit der nicht unerheblichen Gefahr, bei störungsbedingtem Aufeinandertreffen der beiden Relativsysteme ungewollt der Seele Flügel zu verpassen? Mobilitätsdrang, immer schneller, immer weiter?
Das ganze Unglück der Menschheit soll laut Pascal ja daher kommen, daß die Menschen nicht still in einem Zimmer bleiben können. Da ist was dran, aber was? Zunächst: Was für ein Zimmer ist denn gemeint? Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob die Mobilität von einem Büro im Verwaltungsgebäude oder dem Eichenholz-Wohnzimmer im suburbanen Eigenheim ausgeht. Und wieso sollen die Menschen nicht stillsitzen können? Weil das Bürozimmer oder die Schrankwand das Gemüt anöden? Als ob eine automobilgestützte Urlaubsreise nach Südspanien nicht zugleich auch tagelanges Sitzen im Fahrzeug bedeuten würde, und so langweilig wie die Fernsehwerbung mit dem grünen Band der Sympathie zu Hause ist das graue Band der Autobahn unterwegs allemal.
Es kommt also sehr darauf an, welche Mobilität gemeint ist. Lassen wir den Philosophenstreit beiseite, ob der Mobilitätsdrang eher anthropologische oder zivilisationstheoretische Ursachen hat, so genügt ein Blick in die Landschaft, um festzustellen, daß die Ausgangspunkte des massenhaften Herumsausens direkt mit der Art und Weise verknüpft sind, wie die Gesellschaft ihr gesamtes Leben organisiert.
Die Hauptzwecke, zu denen sich die Menschen bewegen, sind trivialerweise die Arbeit und das Vergnügen. Damit hört aber die Trivialität auch schon auf. Wer wie lange woher womit wohin zu welcher Arbeit fährt, ist vielbearbeiteter Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen verschiedener Disziplinen. Als Phänomen läßt sich aber festhalten, daß die Lebensweise (nicht: der Lebensstil) in den modernen Industriegesellschaften durch Wohnen im Eigenheim, Arbeiten an einer außerhäuslichen Stätte und Verkehr mit dem Automobil geprägt ist. Das war durchaus nicht immer so; der Prozeß, in dem sich das in der alten BRD durchsetzte, begann erst nach dem Krieg und dauert bis heute an. Der Drang zum Eigenheim am Stadtrand führte bei entsprechender Steigerung des Durchschnittseinkommens ganz direkt zu den wüstenrotfinanzierten suburbanen Architekturverbrechen, welche die gesellschaftliche Mehrheit in diesem Lande allemal für erstrebenswert hält. Das Automobil verhält sich komplementär dazu. Ohne PKW wäre die Siedlungsweise an den Schienenverkehr gebunden geblieben. Die autogerechte Stadt umgreift damit die Zufahrtswege von der Vorstadt zu den Arbeitsstätten, die Parkhäuser, das adäquate Einkaufen im Supermarkt auf der grünen Wiese, kurz: das gesamte Verkehrsaufkommen, das mit der skizzierten Lebensweise verbunden ist. Der ständig beschworene Verkehrsinfarkt ist somit gesellschaftlich gewollt und mehrheitsfähig. Wenn etwa in Berlin den Plänen der Verkehrsverwaltung zufolge der Anteil des motorisierten Individualverkehrs im Stadtzentrum auf einen Anteil von 20% beschränkt bleiben soll, dann heißt das bei den zu erwartenden Verkehrszuwachsraten, daß mit mehr Blech zu rechnen ist, keineswegs aber mit einem gesellschaftlichen Aufstand gegen das Auto.
Das Auto für die Freizeit, zum Spaßhaben
Zumal das Auto hauptsächlich zum Spaßhaben bestimmt ist: bezogen auf Personen-Kilometer in der alten BRD, entfielen auf den Berufsverkehr 1989 lediglich 22% des Individualverkehrs, auf den Freizeit- und Urlaubsverkehr dagegen 54%. Bediente 1954 die Eisenbahn noch einen Anteil von 56% bei den Haupturlaubsreisen und das Auto 18%, so war das 1985 genau andersherum: 61% entfielen auf das Auto, 11% auf die Eisenbahn. Neben dem gestiegenen Durchschnittseinkommen hatte das auch mit der gestiegenen Urlaubsdauer zu tun: von 1960 auf 1985 stieg der tarifliche Jahresurlaub von 15 auf 30 Tage. Sowohl Geld als auch Zeitdauer ermöglichten damit den Urlaub im Ausland: Was vorher für wenige Gutbetuchte ein Privileg war, wurde jetzt Massenphänomen. In den sechziger Jahren führte lediglich ein Drittel der Urlaubsreisen ins Ausland, 1985 hingegen zwei Drittel. Mit aller Rückwirkung auf die bereisten Regionen: wenn in den Fünfzigern bei Capri die rote Sonne im Meer versank, warfen die Fischer tatsächlich noch im Bogen ihre Netze aus. Heute hingegen ziehen die Boote zwar weiterhin aufs Meer hinaus, aber nicht mehr zum Fischen, sondern armadahaft zur Blauen Grotte, beladen mit Touristen, und man spricht deutsh.
Es ist relativ einfach, an den hinter Eigenheim, Freizeit und Mobilität steckenden Vorstellungen von moderner Individualität Kritik zu üben, sei es in Form des „Autowahns“, des „Sanften Tourismus“ oder anderer kritischer Durchdringungen des Alltagslebens. Aber was wäre die gesellschaftlich verallgemeinerbare Alternative? Elitäres Geschwätz der 'Tempo'-, 'Wiener'- und anderer Lifestyle-Artisten hat den Vorzug, daß es recht schlicht ist: gegenüber dem Massenphänomen Auto wird der 60er-Jahre-Daimler favorisiert, dem Eigenheim in der Stadtrandsiedlung steht das Penthouse in der City gegenüber, und anstatt Adria ist Kenia angesagt? Wohlgemerkt, mehr als Leitbilder dieser sozialen Schicht denn als Tatsache. Mit der Propagierung des Luxus wird aber letztlich die Spirale nur eine Drehung weiter getrieben, denn gerade die Demokratisierung dessen, was vorher Luxus war, ist das eigentliche Massenphänomen der Nachkriegsgesellschaft: Beweglichkeit für alle, Reisen für alle, Häuschen für alle. Daß die Verallgemeinerung des Luxus mit einer Vulgarisierung desselben einhergeht, liegt in der Natur der Sache. Jedenfalls lautet heute die Frage nicht mehr, ob jemand ein Auto hat, sondern nur noch, welches.
Sozialer Aufstieg und Fragen des Lebensstils
Damit deutet sich auch die zentrale Schwäche der Diskussion um Verkehr und Tourismus an, in der Mobilität eher als Problem des Transports behandelt wird. Daß man sich selbst oder einen Gegenstand von A nach B bringen kann, ist eher ein willkommener Nebeneffekt des Autos. Trotz aller Ölkrisen ist nicht nur der Motorisierungsgrad, sondern auch die Motorleistung kontinuierlich gestiegen, der Drang nach größeren und teureren Autos drückt einen sozialen Aufstiegsprozeß aus. Auch die Probleme des Massentourismus werden nur unzulänglich verstanden, wenn sie auf die infrastrukturellen und ökologischen Fragen reduziert werden. Der häßliche Deutsche fährt nicht einfach in Urlaub, um zu sehen und zu staunen. Er tourt auch, um am Reiseziel und, wieder daheim, mit der Reise sich in Szene setzen zu können. Das umgreift übrigens mehr als einfach bloß zu protzen: Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen wird man zu dem, was man gern sein möchte. Und das funktioniert um so besser, als die jährliche Urlaubsreise noch lange nicht für alle realisiert ist: Mitte der achtziger Jahre fuhr nur rund ein Viertel aller (Alt-)Bundesbürger über 14 Jahre weg in den Urlaub. Die Tendenz allerdings ist rapide steigend; daß die Reiseentfernungen ebenfalls zunehmen, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.
Nullsummenspiel mit neuen Varianten
Automobil, Eigenheim, Reisen: im Grunde ist alles ein Nullsummenspiel, sobald der jeweilige Gegenstand massenhaft verallgemeinert wird: Was für einen einzelnen Menschen ein Vorteil sein mag, nivelliert sich, wenn es alle machen. Die potentiell erhöhte Mobilität mit dem Auto wird massenhaft in eine Zwangsmobilität umgemünzt, die sich in erhöhten Wegezeiten ausdrückt und die sich zugleich im Stau auf Null reduziert. Die grüne Natur um das Eigenheim degeneriert zum rasierten Rasen der Eigenheimsiedlungen, wenn alle bei Schwäbisch Hall das Häusle bauen. Daß das Kennenlernen fremder Länder in den wegen touristischer Massenströme eigens errichteten Hotelburgen verunmöglicht wird, wissen selbst Hertie- Reisende. Dennoch ist der Drang ungebrochen, in Deutschland jetzt erst recht durch 16 Millionen Neuankömmlinge in der schönen neuen Welt.
Warum soll in Halle oder Leipzig nicht gelten, was in Hannover oder Düsseldorf jahrelang vorexerziert worden ist? Die Reisefreiheit stand oben auf der Liste der Forderungen vom Herbst '89, das Automobil verwandelte sich schnell vom Trabi in einen Golf, und auch der Auszug aus den Plattenbauten in das Eigenheim – Eigentumsfrage als geklärt, Einkommensdurchschnitt als gestiegen angenommen – wird stattfinden; schließlich sind wir hinsichtlich der angestrebten Lebensweise schon lange ein Volk. Der Beschleunigungsminister Krause ist im Osten nicht wegen seiner Autobahnvorhaben unbeliebt, sondern wegen seiner politischen Geschichte. Seine Pläne, die Magnetbahn Transrapid milliardenschwer nun durch die neuen Bundesländer fegen zu lassen, sind zwar objektiv absurd, aber das ist auch ein Projekt wie der ICE, dessen Zeitersparnis von einer Stunde auf 100 Kilometer im Vergleich zu anderen Schnellzügen sich zu 50 Minuten durch die neue Trassenführung und zu zehn Minuten durch die höhere Geschwindigkeit ergibt. Wenn sich gesteigerte Mobilität dergestalt auflöst in den Bau immer neuer und zusätzlicher Verkehrswege, wird dem Nullsummenspiel nur eine neue Variante hinzugefügt.
Literaturtip:
Eigenheim und Automobil, in: Voy/Polster/Thomasberger:
Gesellschaftliche Transformationsprozesse und materielle Lebensweise. Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.2 , Metropolis-Verlag, Marburg, 1991.
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