: Götterdämmerung in Deutschland
Über das Verhältnis von Staat, Kirchen und Islam ■ VON ZAFER ȘENOCAK UND CLAIRE DE GALEMBERT
Mit Titeln wie Der Muezzin ist überall — Allah erobert die Welt — Die Macht des Propheten — Vormarsch im Namen Allahs machte die Illustrierte 'Stern‘ in ihrer Ausgabe vom 13.2. 1992 eine Reportage über die aktuelle Lage in der islamischen Welt auf. Rasch entpuppt sich der Stimmungsbericht aus den Sphären der Muslime als Stimmungsbarometer in Europa: für das Gefühl, belagert zu sein von einem neuen und doch altbekannten Feind. In der langen gemeinsamen Geschichte muß man nicht lange nach Vorbildern für die Feindschaft suchen. Kreuzzüge und Türkenkriege verdrängen die Phasen kurzer friedlicher und kulturell fruchtbarer Koexistenz. Die jährliche muslimische Pilgerfahrt (Hadsch), bei der sich Gläubige aus aller Welt in Mekka und Medina treffen, löst bei dem 'Stern‘-Reporter die Frage aus: „Ist das nur eine Gemeinschaft des Lebensgefühls, oder braut sich unter dem grünen Banner des Propheten ein Sturm auf den Rest der Welt zusammen?“
Die wahre Dimension des drohenden Konflikts wird deutlich, wenn man begreift, daß der Islam sich nicht nur vor der Haustür Europas befindet, sondern sich als Folge der Emigration schon im Haus niedergelassen hat. In der europäischen Gemeinschaft leben zirka zehn Millionen Menschen muslimischer Herkunft, in Deutschland sind es fast zwei Millionen, von denen 1,6 Millionen aus der Türkei stammen.
Islam im Keller oder in Hinterhöfen
Im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich jedoch, wo Konflikte wie die Rushdie-Affäre oder der Streit um Kopftücher offener und innenpolitischer ausgetragen werden, herrscht in Deutschland vor allem den inneren, „deutschen“ Islam betreffend noch weitgehend ein Blackout. In Frankreich transportiert ein „Rat der Weisen“, als Ansprechpartner von Regierung und Behörden, das Thema Islam in die Öffentlichkeit. In Deutschland bleibt der Islam ganz im Sinne der hiesigen Ausländerpolitik ein Anliegen der Ausländer. Nach über dreißig Jahren Einwanderung ist in Deutschland ein „inneres Ausland“ entstanden, dessen bewußte und unbewußte Verdrängung nach wie vor gesellschaftlicher Konsens ist.
Noch immer fristet der Islam hier ein provisorisches Dasein in Nischen, mit Gebetsräumen in Kellern, zweiten und dritten Hinterhöfen. Für repräsentative Moscheen in den Stadtzentren gibt es unter der Stadtvätern kaum Fürsprecher. Schon gegen Gebetsstätten in Stadtvierteln mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil regt sich der Widerstand der deutschen Bevölkerung. Hausbesitzer sorgen sich um den Wert ihrer Anlagen. Mehrmals mußten sich deutsche Gerichte mit Klagen beschäftigen, bei denen es um die Einrichtung von Gebetsräumen ging. Zuletzt entschied das Bundesverwaltungsgericht, daß das im Grundgesetz verankerte Recht auf Freiheit der Religionsausübung über das Ruhebedürfnis der Nachbarschaft zu stellen sei. Muslimische Friedhöfe gibt es in Deutschland ebensowenig wie einen in den Lehrplan integrierten Religionsunterricht für muslimische Kinder, obwohl der deutsche Staat nach dem Grundgesetz verpflichtet ist, hierfür zu sorgen.
Nirgendwo wurde die Randlage der Muslime in Deutschland so plastisch sichtbar wie im alten ummauerten West-Berlin, wo sich ihre Welt vor allem entlang der Mauer entfaltete. Jetzt, wo die verschwand, wurde aus der Randlage geografisches Zentrum. Gesellschaftlich gesehen aber drängt sich immer spürbarer die Frage auf, wann und zu welchen Bedingungen es zu einem Vertrag mit den „Gästen“ kommen wird, die sich auf Dauer eingerichtet haben?
In letzter Zeit häufen sich wieder Kongresse und Publikationen, die die in den achtziger Jahren erstarrte Diskussion wieder in Gang bringen und Wege ausloten sollen, die Marginalisierung des Islam in Deutschland zu überwinden. Die Debatte Ende der siebziger Jahre, bei der es vor allem um die Einführung des Islamunterrichts an deutschen Schulen ging, aber auch um eine öffentlich- rechtliche Anerkennung des Islam als Körperschaft, ließ zwar einen Wald von Fachliteratur entstehen, aber keine praktikablen Konzepte. So bleibt der Islam weiterhin ein Pflegefall, an dem sich vor allem das paternalistische Bedürfnis der Kirchen befriedigt. Im Gegensatz zur katholischen und protestantischen Kirche ist die Anerkennung der islamischen Gemeinden als Körperschaft öffentlichen Rechts bis dato ausgeblieben. Von deutscher Seite aus heißt es immer wieder, die Muslime würden zwar die Bedingung dafür erfüllen — das heißt, ihrer Zahl nach Gewähr für eine dauerhafte Präsenz bieten. Aufgrund der Zersplitterung in mehrere Organisationen fehle jedoch ein repräsentativer Gesprächspartner. Hinzu kommt, daß nur etwa 15 Prozent der türkischen Bevölkerung in Deutschland Mitglied eines islamischen Vereins sind, wobei die meisten Verbände einer radikalen, fundamentalistischen islamischen Weltsicht anhängen, die sie in Gegensatz zum Gesellschaftssystem der Bundesrepublik bringt.
Zwar versuchte 1979 die zu dieser Zeit mit zirka 18.000 Mitgliedern stärkste islamische Organisation in Deutschland, der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ in Nordrhein-Westfalen, die Körperschaft anzustreben. Doch der Vorstoß war von vorneherein zum Scheitern verurteilt, da der Verband nicht nur bei Gewerkschaften und säkularen Einwandererorganisationen, sondern auch bei muslimischen Konkurrenzunternehmen auf erheblichen Widerstand stieß.
Die islamischen Kulturzentren waren vor allem durch die umstrittene Ausrichtung von Korankursen für muslimische Kinder bekannt geworden. Sie profitierten maßgeblich von dem Vakuum, das existierte, um die religiösen Bedürfnisse der Muslime in Deutschland zu befriedigen. Hinter dem Verband stand die radikal konservative, nationalistisch orientierte Bewegung der Süleymanci (genannt nach ihrem Gründer, dem Prediger Süleyman Tunahan). Die Bigotterie der Süleymancis reicht so weit, jede Art von wissenschaftlichem Studium, vor allem der Philosophie zu verpönen. Der Verband kooperierte zeitweise mit den faschistischen „Grauen Wölfen“ des Obersten Türkeș und bezog finanzielle Hilfe von der katholischen Kirche, etwa vom Kölner Erzbischof Kardinal Höffner. Seit die Körperschaftsdiskussion in Gang gekommen ist, zählt es zur Taktik radikaler islamischer Organisationen, Erklärungen wie die folgende zu veröffentlichen:
„Das islamische Kulturzentrum Köln e.V. ist zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen bereit und fühlt sich der freiheitlich-demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Es sieht in seiner Verpflichtung gegenüber dem islamischen Gesetz auf der einen und der Loyalität gegenüber dem Staat und der ihn tragenden Gesellschaft auf der anderen Seite keinen Widerspruch... Die Gemeindeleitungen legen den Mitgliedern nichts in den Weg, wenn sie etwa die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben wollen. Erklärtes Ziel ist die Integration der Moslems in die deutsche Gesellschaft mit allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten...“.
Wie diese Integration auszusehen hat, erläutert der Vorsitzende H.R. Tüyloglu, der sich selbst als Eroberer von Europa bezeichnet, in einem Artikel der Zeitung 'Anadolu‘ vom 6.6. 1979: „Wir sind eine edle und adelige Nation, die die Fahnen des Islam tausend Jahre getragen hat. Gottseidank sind wir Muslime. Deshalb werden wir uns nicht wie damals die Polen — in Deutschland assimilieren.“ In derselben Zeitung schrieb der Stuttgarter Hauptimam Mehmet Kaya: „Ein Deutscher hat keine äußere Reinheit, weil er Wein, Schnaps und Bier trinkt und Schweinefleisch ißt. Innere Reinheit besitzt er sowieso nicht.“
Ankaras Beamte mischen hier kräftig mit
Diese Doppelzüngigkeit hat Methode. Bei der derzeit mit ungefähr 70.000 Anhängern zweitstärksten Vereinigung führt sie gar so weit, den Vereinsnamen „Avrupa Milli Görüș Teskilatlari“ (Vereinigung der Nationalen Sicht in Europa) mit dem unverbindlicheren Titel „Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa“ zu übersetzen. „Milli Görüș“ ist nichts anderes als die Auslandsorganisation der fundamentalistisch islamischen „Wohlstandspartei“ von Necmeddin Erbakan. Bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei konnte er dank einer Wahlgemeinschaft mit der faschistischen „Partei der Nationalen Arbeit“ von Türkeș über 16 Prozent der Stimmen bekommen. Ziel der Partei ist die Gründung eines theokratischen Staates in der Türkei. Es gibt viele Querverbindungen zu fundamentalistischen Organisationen in der arabischen Welt, etwa zu den Muslimbrüdern. Auffallend ist in letzter Zeit, daß sie mit immer mehr Erfolg deutsche Muslime, wie den reform- und dialogorientierten Leiter des Islam-Archivs in Soest, M.S. Abdullah, vor ihren Karren spannt. Dabei stellt sich die Frage, ob diese eine mäßigende Vermittlerrolle übernehmen oder als Strohmänner mißbraucht werden. Abdullah hält eine aufklärerische Neuinterpretation des islamischen Glaubens für unverzichtbar und glaubt über den Weg der Anerkennung des Islam als Körperschaft mit der Herausforderung der Säkularisierung fertig werden zu können.
Hierzu müßten sich alle nennenswerten islamischen Verbände verbünden. Doch inzwischen wird der islamische Heilsmarkt in Deutschland gänzlich von Ankara aus beherrscht. Das ungezügelte Treiben radikaler Organisationen wurde dem laizistischen Staat zu bunt, da er einen wachsenden Einfluß auf die Türkei befürchtete. Die Anstalt für religiöse Angelegenheiten in Ankara, die der türkischen Regierung unterstellt ist, kontrolliert mittlerweile Hunderte von muslimischen Gemeinden. Die von ihr gegründete DITIB (Türkisch-Ilamische Union der Anstalt für Religion) hat bereits an die 110.000 Mitglieder. In fast allen deutschen Großstädten kaufte die finanzstarke DITIB Grundstücke und Gebäude, um islamische Zentren zu gründen. Vor allem die islamischen Kulturzentren der Süleymancis mußten der Initiative des türkischen Staates weichen. Ihre Mitgliederzahl ist mittlerweile auf 10.000 geschrumpft. Nach eigenen Angaben setzt DITIB sich für die Integration der türkischen Bürger in Deutschland ein und will eine Alternative zu den religiösen Aktivitäten fundamentalistischer und extremistischer türkisch-islamischer Gruppierungen in Deutschland bieten.
Anpassungsdruck von Seiten der Deutschen
Ist es nicht logische Konsequenz deutscher Ausländerpolitik, daß der deutsche Staat sich mit einer Organisation an den Tisch setzt, deren Leitung in Ankara sitzt und deren Imame in Deutschland Beamte des türkischen Staates sind? Die Anstalt für religiöse Angelegenheiten in Ankara ist nicht wie eine Kirche organisiert. Sie ist eine staatliche Behörde, ein türkischer Modellversuch, den Islam in eine säkulare und pluralistische Gesellschaft zu integrieren. Der Islam hat in seiner 1400jährigen Geschichte keine Kirche gebildet.
Wem nutzt bei solchen Ausgangsbedingungen die Bildung einer Körperschaft, außer denen, die die religiösen Bedürfnisse und Gefühle der Muslime ausbeuten wollen? Die Mehrheit der türkischen Muslime sind keine Anhänger eines islamischen Gesellschaftsmodells. Sie pflegen einen persönlichen Glauben, der weitgehend säkularisiert ist und keiner komplizierten, geldschluckenden Apparate bedarf. Es ist grotesk: Die angeblich säkularisierte deutsche Gesellschaft drängt die angeblich präsäkulare islamische Glaubensgemeinschaft dazu, eine kirchenähnliche Institution zu bilden. Dabei wird der eigentliche wunde Punkt in dieser Debatte sichtbar: Es hat in Deutschland Tradition, Gleichberechtigung unter den Religionen, auch wenn die Verfassung den Staat zu Neutralität verpflichtet, nicht von vorneherein als Gesellschaftsauftrag zu verstehen, sondern nur als Anpassung von Seiten der Minderheiten. Das läßt sich mit der Geschichte der Emanzipation der Juden belegen. Lieber steckt der deutsche Staat den Islam in ein unpassendes Kleid, als in der unbefriedigenden Situation einen Anlaß zur Fehleranalyse der eigenen Gesellschaft zu sehen.
Unvollendete Säkularisierung
In Wahrheit deutet nämlich die aktuelle Konstellation zwischen Kirchen und Staat auf eine steckengebliebene Säkularisierung in Deutschland hin. Von der Wiege bis zur Bahre begleitet das Christentum den deutschen Bürger nicht nur im spirituellen Bereich, sondern auch in ganz profanen Dingen wie den Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern. Der Staatsscheck in Höhe von über 13 Milliarden D-Mark jährlich, die in Form einer Kirchensteuer von den Bürgern eingetrieben werden, ist einzigartig in Europa. Fast drei Viertel dieser Summe werden von Verwaltungskosten und Personal geschluckt.
Die von einigen Parlamentariern entfachte aktuelle Diskussion zur Abschaffung der Kirchensteuer könnte eine besondere Note erhalten, wenn an die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland, den Islam nämlich, erinnert würde. Die vom Grundgesetz garantierte Neutralität des Staates ist längst nicht mehr gegeben. Der Islam als eine Religion Deutschlands existiert weiterhin nicht im Bewußtsein der Deutschen. So kann seine Präsenz auch kaum zu einer säkularen Reform in Deutschland beitragen, wenn es darum geht, das Verhältnis der Kirchen zum Staat neuzuordnen. Immer noch informiert sich der deutsche Staat in erster Linie bei den Kirchen, wenn es um Fragen des Islam geht. Auf muslimischer Seite fehle es an Gesprächspartnern, hört man oft. Doch fehlen die nicht ebenso auf deutscher Seite?
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