piwik no script img

Brüssel gleich Berlin?

Bewohner fordern: Die „Hauptstadt Europas“ soll nach Bonn oder Berlin umziehen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Brüssel sei wie Berlin, sagen mir die Ossis, die es nach Europa zieht. Unisono stellen sie fest, daß die Ähnlichkeiten mit ihrer Hauptstadt verblüffend seien. So heruntergewirtschaftet und provinziell hätten sie sich Europas Metropole niemals vorgestellt. Dies macht die Stadt in ihren Augen jedoch liebenswert, denn Brüssel sei menschlicher und nicht so abgeschleckt wie Bonn oder andere deutsche Städte.

Brüssel ist jedoch nicht nur den Ostdeutschen unbekannt, wie ich häufig feststelle, wenn wir „Besuch aus der Heimat“ bekommen. Auch die meisten Westler kennen ihre Hauptstadt nicht. Vom TV oder von der Durchreise sind höchstens das ewig pissende Männeken, der Grand Place und das Europaviertel ein Begriff. Daß die Millionenstadt zu etwa einem Viertel von Ausländern bewohnt wird und eine äußerst vielfältige Kneipen-, Theater und Märkteszene zu bieten hat, dies führt selbst bei Besuchern aus dem fernen Bonn zu der erstaunten Frage: „Warum ist Brüssel denn so unbekannt?“

Schwer scheinen sich vor allem die Westberliner damit zu tun, Brüssel als Stadt wahrzunehmen. Brüssel deshalb mit Berlin — dem Nabel der Welt — zu vergleichen, ist auch für viele Freunde ein undenkbarer Gedanke. Dennoch bestechen die Parallelen: Ein Blick auf die Brüsseler Bahnhöfe oder die meisten anderen öffentlichen Gebäude genügt — Plaste und Elaste vom Feinsten.

Selbst beim Bau des nun auf die Renovierung wartenden EG-Tempels hatten die EG-Architekten sich vom DDR-Stil der 60er Jahre inspirieren lassen. Als weithin gerühmter Beweis gilt die Ausstattung der in den Tiefen des Berlayemont-Gebäudes installierten Restaurants. Besondere Bewunderung ruft dort die in Blau gehaltene Lichtglasdecke hervor. Heimatgefühle erzeugen zudem die vielen Wartburgs und Skodas, die überraschend gestanklos durch Brüssels Straßen kurven.

Außerdem: Auch die belgische Hauptstadt ist eine Insel — ein französischsprachiger Fremdkörper auf flämischem Territorium. Beide Metropolen sind Hauptstädte im Werden. Brüssel kann allerdings bereits eine lange Liste von Titeln vorweisen: Hauptstadt des Königreichs Belgien, der Region Flandern und der Nato, Hauptstadt der Comics, des Jugendstils, der Pralinen und der Pommes-frites, die hier entdeckt wurden.

Aber Brüssel ist nicht nur eine Fundgrube für Feinschmecker, sondern auch ein Lehrbeispiel dafür, was es bedeutet, Hauptstadt zu werden. Dort spricht man mit vielen Zungen. Nicht nur Flämisch und Französisch, auch Deutsch ist offizielle Amtssprache. Daneben kann man Türkisch, Arabisch, Zairisch und Englisch ebenso hören wie Italienisch, Polnisch oder Japanisch. Das moderne Babel ist eine Stadt der Gegensätze — mittelalterliche Unübersichtlichkeit und graziler Jugendstil werden verdrängt von sterilem Euro-Gigantismus.

Denn um den Titel „Hauptstadt Europas“ zu ergattern, lassen die Brüsseler Stadtväter zur Zeit bauen, was die Maschinen halten. Weil Büroräume um ein vielfaches lukrativer sind als Wohnungen und kleine Geschäfte, werden wahllos Jugendstilhäuser, Parks und ganze Häuserzeilen plattgewalzt und mit Bürotürmen bepflanzt. Den mit Anhang rund 40.000 zählenden Euro- und Natokraten zuliebe müssen Tausende von Brüsseler ihr Heim räumen. Neuester Fall: 1.700 Menschen sollen auf die Straße gesetzt werden, um am Südbahnhof Platz für den Hochgeschwindigkeitszug TGV zu schaffen. Knapp 20.000 Wohnungen sind dem Hauptstadtwahn bereits zum Opfer gefallen. Etwa 30.000 weitere warten auf Abriß. Dieser Zerstörungsprozeß ist einmalig in der Geschichte Brüssels, das vom Zweiten Weltkrieg vollkommen verschont geblieben war. Folge: Seit 1988 sind die Mieten um 30 Prozent gestiegen. Wohl deshalb fühlen sich viele Brüsseler von Europa stiefmütterlich behandelt. Immer lauter fordern sie einen Umzug der „Hauptstadt Europas“ nach Bonn oder Berlin, weil denen der Titel „besser zu Gesicht steht“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen