Es goethet, schillert und fontanet...

■ »Was hör' ich draußen vor dem Tor...« — Ein Balladenabend mit Klaus Sonnenschein in der Tribüne

Kein Vorhang braucht aufgezogen zu werden für eine Ballade. Sag: Erlkönig, und dein Gegenüber ist selbst überrascht, daß er es auf jeden Fall noch zu »durch Nacht und Wind« bringt, wenn nicht gar bis »mit seinem Kind«. Die Ballade hängt als Sekundarstufenkultur über dem deutschen Bildungsschädel und harrt da ihrer Dinge — wie das Vaterunser auch. Warum der Erlkönig jedoch der Tod ist, bleibt ein Rätsel. Er ist so zeitlos wie die Ballade, die wahrscheinlich eine in die Aufklärung hinübergerettete, quasi autorenlose mündliche Überlieferungstradition reflektiert. Da aber die Erde zu der Zeit, als die Ballade modern war, schon nicht mehr der Mittelpunkt der Welt war, soll die Ballade zwar noch vorgetragen werden, aber ein Märchen ist sie deshalb noch lange nicht. Was kein Märchen ist, braucht einen Autor, und insofern kann er auch Goethe und Co. heißen.

Klaus Sonnenschein, Direktor und Schauspieler der Tribüne, hat sich nun aufgerafft, achtzehn »Deutsche Balladen« ins Publikum und den Raum darüber zu deklamieren. Es goethet, uhlandet, fontanet und schillert. Vor dem roten Bühnenvorhang steht ein Arrangement aus Stühlen, der Stuhl in der Mitte hat imposante Ausmaße, ist mit Samt bezogen und in gedrechseltem Design — es tritt der wohlbeleibte Herr in Frack und weißer Schärpe ein. Er beginnt sofort zu sprechen. Mit seiner umfassenden, klaren Stimme gelingt es ihm, trotz seines eklatanten Mangels an körperlicher Dynamik, die Zuschauer immer wieder zu faszinieren und in die Geschichten, die er da erzählt, hineinzuziehen. Eine geballte Ladung Kaiser und Könige, Ritter und Jünglinge plus passenden Untertanen werden ohn' Unterlaß anderthalb Stunden lang Revue passieren. Es wird gesungen und geflucht, geschwommen und gesucht, hintergangen und gefangen. Die Moral steht ganz oben. Da soll sie auch bleiben. Dem Guten gebührt Lob, selbst wenn er seine Heldentaten nicht mehr überlebt, dem Schlechten gebührt unsere selbstgerechte Schadenfreude.

Immerhin weiß ich jetzt, daß die drei Goldgräber sich gegenseitig umgebracht haben, auch der Zusammenhang zwischen einem Hufeisen und einer Handvoll Kirschen ist mir klargeworden und daß der König kommt. Verstanden habe ich ebenfalls, was den Schwaben an Ruhm vorauseilt, daß ein Schäfer klüger ist als ein Abt und daß Frauen absichtlich ihre Taschentücher verlieren, um die Galane zu genieren. Lediglich die Frage nach Erlkönig und Tod blieb unbeantwortet.

Klaus Sonnenschein — »immerhin heißt er Sonnenschein«, sagt die Frau, die neben mir sitzt und ihre mitgebrachte Stulle ißt — nimmt während seines Vortrages insgesamt fünf Positionen ein. Stehend wechselt er zwischen rechts, links und der Mitte ab; sitzend deklamiert er von der Mitte der Bühne und von der linken Seite aus. Abwechslungsreicher ist da schon seine Gestik und Mimik. Die rechte Hand ist ununterbrochen im Einsatz. Am Ellbogen abgewinkelt, wird sie je nach inhaltlicher Situation nach außen, oben oder unten vorgestreckt. Neugierig geworden, folge ich seinen Bewegungen und kontrolliere, ob sie zum Gesprochenen passen. Sie tun es: »So viel an seiner Stätt, für einen Trunk Wasser tät« — Augen weit aufgerissen; »auf dem Seile zieht man den Freund empor« — rechte Hand nach oben; »zu tauchen in diesen Schlund« — heftige Geste mit dem Zeigefinger nach unten; »lang lebe der König« — beide Augen zusammengepreßt; »will schnappen nach mir« — epileptische Ganzkörpergeste; »das Volk, es fordert seine Wut« — zitternde rechte, etwas erhöhte Faust; »so schreiten keine irdischen Weiber« — weit aufgerissene Augen; »ewig jung ist nur die Fantasie« — Augenaufschlag, Licht aus, Applaus. Schwab