: Wie ein Stück Leipziger Geschichte zerfällt
Das Archiv der Leipziger Messe gerät in einem Kellerloch in Vergessenheit/ Archivarin Helgard Hirschfeld kämpft seit acht Jahren völlig allein/ Die der Zukunft zugewandte Messeleitung läßt weder Kommunikation noch einen Kopierer zu ■ Aus Leipzig Nana Brink
Helgard Hirschfeld träumt manchmal von hohen, sonnendurchfluteten Räumen. „Ich denke mir dann weiße Wände dazu, so ganz moderne Regale, wo die Leiter entlangsurrt und die Schubladen lautlos herausgezogen werden.“ Am liebsten wäre sie mit ihren „laufenden 2.000 Metern“ unterm Dach eines der noch erhaltenen Leipziger Innenstadthäuser mit Barockfassade untergebracht. Statt dessen muß sich, wer die Archivarin des Leipziger Messearchivs finden will, durch einen langen finsteren Gang wagen. Am Ende findet sich eine Tür mit der Aufschrift: Betriebsarchiv. Darüber das aufgebrochene Siegel, das noch aus den Zeiten der Wende stammt.
Die Tür führt in die Welt der Regale, die sich vollbepackt an den Wänden entlang und bis zur Decke strecken. Ein Stoß und die sich biegenden Bretter fielen zusammen mitsamt den Pappkartons, die den herabbröselnden Deckenbelag auffangen. Der Raum im Tiefpaterre eines verlassenen Bürogebäudes hat vergitterte Fenster. Zwischen den Regalen fällt der Blick in den Schacht des Innenhofes und die qualmende Heizungsanlage. Dutzende pralle Postsäcke türmen sich neben der Tür. Nach einigen Rufen taucht ein Mensch auf. Helgard Hirschfeld trägt einen Nylonkittel und Gummihandschuhe. „Machen Sie sich die Hände nicht schmutzig“, warnt sie vorsorglich. „Sie haben mich aber schnell gefunden.“
Allein im Kampf gegen die Akten
Der Keller ist eine vergessene Welt. In den vier verschachtelten Räumen verstaubt das Gedächtnis der Leipziger Messe: 1.500 laufende Meter Archivgut, zu dem sich jährlich weitere 70 Meter gesellen. Der gesamte Schriftgutbestand des Messeamtes seit 1945: Geschäftskorrespondenz, Protokolle, Zeitungsausschnitte, Messekataloge, Plakate, Schriftgut der messeamtlichen Parteiarbeit, alte Kaderakten der Personalabteilung und andere Kostbarkeiten, zum Beispiel die Fotos aus der Nachkriegszeit der Messe.
„Das Archiv ist ein Wirrwarr von aktueller Geschäftspost, Buchhaltung und alten Dokumenten“, meint die Messechefin und ehemalige Verlagsmanagerin Cornelia Wohlfarth. Ergo läßt sie die Hüterin des Schatzes ohne Hilfe. Seit acht Jahren ist Helgard Hirschfeld allein mit den Akten. Ihre Arbeitsmittel sind zwei Aktenwagen, eine wacklige Leiter, ein unter Denkmalschutz stehender Computer sowie Kittel und Handschuhe. „Als ich 1984 hier anfing, habe ich 2.000 Meter unerschlossene Akten gefunden. Es gab lediglich Listen, die den Eingang des Archivgutes chronologisch bestätigten“, erzählt sie. Deshalb die Handschuhe: „Ich gehe hier Meter für Meter vor und nehme die alten Papiere einzeln in die Hand, um zu sehen, was es ist.“ Ihr selbstgemachtes Computerprogramm erleichtert mittlerweile den Überblick.
Zeugnis deutscher Akribie
Nach dem alliierten Bombenangriff Anfang Dezember 1943 wurde mit der Zerstörung des seit 1917 bestehenden Messeamtes auch ein Großteil des Archivs vernichtet. Was übrig blieb, wurde dem Staatsarchiv übergeben, wo heute noch die Dokumente der über achthundertjährigen Geschichte der Leipziger Messe lagern, so zum Beispiel die „Geburtsurkunde“ der Messe aus dem Jahr 1165. 1951 richtete der damalige Genosse Geschäftsführer wieder ein Messeamts-Archiv ein. Ihm oblag auch die Entscheidung über das „bewahrenswerte Gut“. Geheime Verschlußsachen wird man also aus den Aktenbergen kaum schürfen, da Brisantes zur sozialistischen Messegeschichte eher in den Archiven der Staatssicherheit landete. Doch einen merkwürdiger Fund, der wohl nur der Hartnäckigkeit der Archivarin zu verdanken ist, bilden die Akten der betrieblichen Parteiarbeit, die bis dato ihrer Erfassung harren. Im Normalfall wanderten Parteiakten ehemals volkseigener Betriebe ins zentrale Bezirksparteiarchiv, dann ins Staatsarchiv. Nach dem bundesdeutschen Archivgesetz unterliegen sie dort einer jahrzehntelangen Sperrfrist, so es um personenbezogene Unterlagen geht. Daneben wurde im Messearchiv deutsch-akribisch tonnenweise Wichtiges neben Unwichtigem willkürlich gelagert: Von den Stromabrechnungen über Eröffnungsreden bis zu den Akkreditierungslisten ausländischer Journalisten. In den turbulenten Wochen der Wende wachte die Hüterin mit Argusaugen über ihre Schätze. „Da ich die einzige war, die den Schlüssel hatte, bin ich ziemlich sicher, daß nichts weggekommen ist“, sagt sie.
Manchmal kommt sich Helgard Hirschfeld vor wie ein Maulwurf. Mit der Gründung der neuen Messegesellschaft erhoffte sie sich frischen Wind in den Muff ihres Kellerlochs. Daß die Archivare in der DDR wie Stiefkinder behandelt wurde, man sich ihrer Zuarbeit kommentarlos bediente, hat die 43jährige, die nie Genossin war, „mit einigen Bauchschmerzen“ geschluckt. Schließlich war sie froh über den relativ kreativen Job bei der Messe: „Ich war bis dahin bei der Justiz beschäftigt und mußte mit ansehen, wie Schicksale abgeheftet wurden.“
Geschichte nicht nur zum Abheften
Sie kündigte und widmete sich zusammen mit einem Historiker der Messe-Chronik. Den Traum jedes Archivars, seine Schätze auch öffentlich zu zeigen, hat sie sich bis 1989 abgeschminkt. Man habe damals, sagt sie ironisch, eher im Untergrund gearbeitet. „Aber gerade jetzt, wo soviel über das Überleben der Messe geredet wird, könnte ich so vieles zeigen, zum Beispiel die Nachkriegsgeschichte, die ja auch ein Neubeginn war.“ Mit einigem Stolz zeigt sie jedem Besucher, der sich in ihren Keller verirrt, das Genehmigungsschreiben der sowjetischen Militäradministration zur ersten „Friedensmesse“ 1946 und die Listen der ersten Aussteller.
Ignoranz in der Chefetage
An der stiefmütterlichen Behandlung hat sich auch nach der mit viel PR-Aufwand betriebenen Umstrukturierung der Messe nicht viel geändert. Trotz mehrmaliger Bittschreiben an die Geschäftsleitung fristet das Kellerkind wie zu DDR-Zeiten ein Schattendasein. Die Äußerung von Messechefin Wohlfarth, das Archiv sei ein „Wirrwarr“, trifft Helgard Hirschfeld besonders. Sie versteht nicht, daß man nicht erkennt, was hier für ein Fundus liegt, daß man ihn nicht nutzbar macht. Für die Erschließung und Neustrukturierung des Archivs müßte dringend eine zweite Stelle eingerichtet werden. Seit einiger Zeit hat auch der Publikumsverkehr erheblich zugenommen. Auf Helgard Hirschfelds Schreibtisch liegt ein dicker Ordner mit Anfragen. Daß die Archivarbeit nicht nur für die Auflistung von Anekdoten für irgendwelche Broschüren nutze ist, sondern lebenswichtig für die Messe sein kann, wurde klar, als die Archivarin zusammen mit dem Messe-Justitiar die Eigentumsfragen der innerstädtischen Messehäusern recherchierte. „Wir konnten beweisen, daß dieses und jenes Haus Messeeigentum ist.
Begeistert hat Helgard Hirschfeld den Wunsch der Messeleitung aufgenommen, ein Messe-Museum zu gründen. Sie schickte Arbeitsanalysen und Bestandsaufnahmen, machte Vorschläge zur Vorarbeit. Die Resonanz blieb gleich null. „Manchmal komme ich mir vor wie der Hofnarr. Ein Museum zu gründen bedeute schließlich jahrelange Vorabeit“, gemahnt sie. Manchmal zweifelt Helgard Hirschfeld an der Kompetenz der neuen Manager: Sie muß um jede Unterlage betteln. Manche Plakate und Berichte muß sie sich von den Schreibtischen der Kollegen wegnehmen. Es besteht überhaupt keine Arbeitsgrundlage, keine Anweisung der Geschäftsführung, was die einzelnen Abteilungen ins Archiv überstellen müssen. Ein Unding, findet die Archivarin, „denn ich muß doch auf dem neuesten Stand sein. Aber den erfahre ich aus der Tagespresse.“ Als sie diese jüngst studierte, erfuhr sie, daß das Messe-Archiv wegen Umzugs geschlossen sei. Nicht per offizieller Anweisung, nur über „Buschfunk“ erfuhr sie, daß die Messe das Haus, in dem das Archiv sitzt, aufgeben wird. Eine Halle, die sie schon vor Monaten besichtigte, ist nicht geeignet für die Lagerung der Akten. Mit Schrecken denkt sie nun an den Umzug: „Da vieles noch nicht erschlossen ist, muß der Umzug sehr sorgfältig geplant werden. Sonst findet man nichts wieder.“
Die Träume einer Hofnärrin
Während die Messe ums Überleben kämpft und auf dem Reißbrett schon neue hypermoderne Anlagen geplant werden, verliert sie langsam ihr Gedächtnis. Aus einem Raum mußte Helgard Hirschfeld schon wegen modernder Wände die Akten Stück für Stück herausschleppen. Die „Historikerin aus Leidenschaft“, die mehr Eigeninitiative zeigt, als die Messe-Manager wohl sonst von ihren „alten Kadern“ gewohnt sind, resigniert bei all dem ein wenig. Und träumt neben sonnendurchfluteten Räumen von dem Kopierer, auf den sie schon seit acht Jahren wartet.
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