: Der Onkel aus Amerika
■ Reinhard Lettau las in der Ostberliner Akademie der Künste
Reinhard Lettau liest. Durch starke Brillengläser starrt er auf den Text Zur Frage der Himmelsrichtungen bei Hanser. Leinenausgabe, die liegt besser in der Hand. Der noch immer sinnliche Mund spricht atemlos — wenn auch durch die Nase — den Text, wie er im Buche steht. Ein Blick über die grauen Köpfe des Publikums hinweg — doch: ein paar Germanistikstudenten mit wachen Augen und Strubbelhaar sind auch dabei. Nun hört man ihn im Weggucken wie einen Erzähler, der erzählt, viel zu hastig, mit leicht amerikanischem Akzent. Ein Nachbar, so könnte man meinen, aber dann hört man wieder den amerikanischen Akzent, also doch eher ein Onkel, der vorbeikam und von der großen Welt erzählt: »Man könnte also Amerika beschreiben als ein Land, das alles hat, nur eben immer zum zweiten Mal: ein älteres, geräumigeres Japan, mit dem Vorteil den Originalen näher zu sein, die es kopiert, und dem zusätzlichen Vorteil, weit weg vom wirklichen Japan zu sein.« Eben noch in Amerika, ist er kurz darauf — man hat wohl einen Moment nicht zugehört — in Erfurt, Thüringen: »Heute ist es überall schön.«
Da sitzt er also auf dem blauen Club-Sofa, das sich die Wände langzieht, ganz oben im literarischen Salon der Ost-Akademie, wo Heiner Müller, der Gastgeber, neben ihm sitzt und weiße Apfelstückchen und rosa Mandarinenmonde anbietet. Eigentlich wäre er lieber zu Hause, der Lettau, aber nun ist er schon mal hier. Müller neben ihm schmaucht seine kalte Zigarre, klopft ihm mit den übrigen drei Fingern aufmunternd auf die Schultern: Dies ist der Reinhard. Der hat sich rar gemacht in Berlin in den letzten Jahren, seit seiner »Ausweisung«. Jawohl, so steht's in jedem Kurzproträt des Künstlers: Ausweisung aus Berlin wegen Beleidigung der amerikanischen Besatzer anno 67, als Reinhard Lettau gegen »Vietnam« agitierte und vor versammeltem Audimax wortwörtlich und tätlich Berliner Zeitungen zerriß. Also mußte er weg.
Er ging dahin, wo er zwei Jahre zuvor herkam, nach Amerika. In Kalifornien, an der mexikanischen Grenze, wo Angela Davies und Herbert Marcuse schon auf ihn warteten, wurde er Literaturprofessor und schickte alle paar Jahre ein Büchlein nach Deutschland. Darin steht die gleiche Geschichte: Vom Feind, der nicht zu fassen ist, weil er sich an dein Gewehr hängt: vom Gast, der nachts Kommoden rückt und tags das Marmeladenbrot auf der Tischkante balanciert, vom Reisen.
Nun aber ist er — Lettau, der Gast — heimgekehrt mit seinen 62 Jahren auf dem Buckel, von denen er 38 in Amerika verbrachte. In der guten Ostberliner Akademie-Stube spricht er von neuesten Verwandlungen im Geburtsort Erfurt, wo er zu Hause ist, denn »Westdeutschland war immer Ausland für mich«. Was ihn nicht daran hindert, von »drüben« zu sprechen, wenn er vom Thüringer Land berichtet. Verwirrend ist das, wie seine Geschichten. Wenn er nicht weitererzählen will, wie das war in Amerika und wie das ist im neuen Deutschland, dann springt »Oma« Müller, der Gastgeber, ein. Milde lächelnd und schick mit Yves- Saint-Laurent-Kragen erzählt er von Besuchen beim Reinhard in Amerika, wo sie zu dritt mit dem Marcuse — der seine Literatur stalinistisch fand, ihn aber ganz gerne mochte — im Drugstore Waschmittel kauften. Da lachte die Familie drumherum, das Publikum, ganz herzlich. Kurz vor Schluß — er will ja längst nicht mehr — dann doch noch eine Botschaft: daß die Stasi eine Obsession geworden sei. Und der Müller legt die Hände übereinander und noch eins drauf: daß die Treuhand eine Überlebensform der Staatssicherheit sei. Eine. Das Publikum nickt. Fritz von Klinggräff
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