: Wohlgemute Spielplatzmusik
■ Don Cherry & Multi Kulti spielten am Wochenende im Quasimodo
Der Begriff »Multi Kulti« klingt, als sei er einst in der Krabbelgruppe der grünen Bundestagsfraktion erfunden worden. Weit gefehlt. Der Jazzmusiker Don Cherry war es, der den debilitätsumwehten Terminus bereits in den Mund nahm, als die Bezeichnung »Grüne« noch nutzlos auf der Straße herumlungernden Gestalten in Uniform und Schirmmütze vorbehalten war. So sei es dem weltgewandten Musiker, der 1936 mit der Mission, den Jazz zu revolutionieren, in Oklahoma City geboren wurde, also unbenommen, seine dreiköpfige Begleitband »Multi Kulti« zu nennen. Trotzdem: Brrr!
Wo immer etwas los war im Jazz der letzten 35 Jahre, Don Cherry war dabei. Mit seiner niedlichen Taschentrompete, die aussieht, als habe er sie gerade auf dem nächstgelegenen Spielplatz einem wehrlosen Kleinkind entwendet, trieb er Ornette Coleman und John Coltrane Ende der fünfziger Jahre auf den Pfad des Free Jazz, spielte mit allen Größen von Sonny Rollins über Archie Shepp bis Abdullah Ibrahim, wirkte in Charlie Hadens »Liberation Music Orchestra« bei der großzügigen Interpretation von Revolutionsweisen mit und schreckte nicht einmal vor Lou Reed zurück. Längst beschränkte er sich nicht mehr auf »dieses kleine Horn«, wie es Miles Davis spöttisch nannte, sondern hatte auf seinen globusumspannenden Reisen die wunderlichsten Instrumente erlernt, Elemente verschiedenster Volksmusiken absorbiert und seinem ureigenen Stil einverleibt.
»Das musikalische Gedächtnis der Welt« wird er gelegentlich genannt, und am Freitag und Samstag weilte er im Quasimodo, um einige Fetzen aus dem Schatz seiner Erinnerungen unters Volk zu streuen. »Ich bin 55 Jahre alt und habe vier Enkel«, verkündete der hagere Mann mit dem Echnaton- Profil und den kurzen Rasta-Zöpfchen stolz, wohl wissend, daß man ihm das nie und nimmer ansieht. Don Cherry wirkt jünger als er ist; wenn er lacht, was er sehr gern tut, sogar viel jünger, geradezu kindlich manchmal. Überhaupt hat die Show einen leicht infantilen Charakter, der meist sehr angenehm, manchmal auch etwas nervend ist. Sprunghaft und hibbelig wie ein Achtjähriger vor der Weihnachtsbescherung wechselt Cherry die Instrumente, klimpert hier auf seinem Elektroklavier, pustet da in sein Trompetchen, trillert einige Sekunden auf der Blockflöte, um im nächsten Augenblick zu einer jener afrikanischen Gitarren zu greifen, die zwar äußerst urwüchsig aussehen, aber kaum zum Zwecke der Musikerzeugung taugen. Ab und zu plappert er plötzlich ins Mikrofon, gestikuliert mysteriös in der Luft herum oder trällert auf einmal los wie ein irischer Pub-Musiker kurz vor Thekenschluß. Dann steht er mitten im Stück auf, tänzelt durchs Publikum zur Bar und holt sich einen Drink. Glücklich zurückgekehrt, kräht er unvermittelt: »We want some saxophone.« Und gehorsam verläßt Peter Apfelbaum sein Piano, greift zum gewünschten Gerät und bläst, daß das Bier in den Gläsern zu schäumen beginnt. Der Meister sieht es mit Vergnügen und erzählt sogleich, wieviel Spaß er doch mit seinen neuen Mitstreitern hat, seit er vor zwei Jahren von der Lower East Side in New York nach San Francisco gezogen ist.
Der stämmige Apfelbaum, dessen Wipfel von einer voluminösen Rundkappe mit Koptenkreuz gekrönt wird, ist in dem Quartett für die musikalische Stringenz zuständig. Solide und versiert treibt er mit Piano und Saxophon die locker ineinander übergehenden Melodien eines Thelonious Monk, Manu Dibango oder von Don Cherry selbst voran und schafft die Basis für die Eskapaden seines genial- verspielten Vorgesetzten. Unterstützt wird Apfelbaum dabei von Josh Jones, mit Clark-Gable-Bärtchen und ebensolcher Pomadefrisur, der freundlich lächelnd auf die Drums einschlägt, sowie dem ebenfalls rastabezopften und entspannt an seinem Elektrobaß herumzupfenden Bo Freeman.
Mehr als zwei Stunden lang berieseln Don Cherry & Multi Kulti mit ihrer wohlgemuten Spielplatzmusik, die manchmal ein wenig zum Dahinplätschern neigt, das gut gefüllte Quasimodo, geizen nicht mit Zugaben und entlassen das begeisterte Publikum schließlich mit einem träumerisch-wohlgefälligen Lächeln auf den Lippen, das erst durch den herzhaften Tritt in die nächste Pfütze zum Erlöschen gebracht werden kann, hinaus in die trübe und regnerische Charlottenburger Nacht. Matti Lieske
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