: Unterm Strich
Neue Paradigmen allerorten: Die Menschen sind nach Ansicht des Erzbischofs von Canterbury, George Carey, zu sehr an Sex interessiert und zu wenig an weltweiten Problemen wie etwa der Armut. In einem Interview der Londoner Zeitung „Independent“ vom Freitag sagte das geistliche Oberhaupt der anglikanischen Kirche: „Wir neigen dazu, die fleischliche Leidenschaft zu übertreiben, anstatt über globale Fragen nachzudenken. Die Kirche ist daran genauso schuldig wie andere Teile der Gesellschaft, weil sie sexuelle Sünden als schwerwiegender betrachtet als andere.“
Archäologen aus Ägypten und Großbritannien haben damit begonnen, die im Januar 1989 entdeckten sechs Mumien aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend wissenschaftlich zu untersuchen. Die Mumien gelten als so bedeutend, daß man sie nach ihrem Fund noch drei Jahre lang in ihrem Grab nahe der Ortschaft El Hagarsa 400 Kilometer südlich von Kairo gelassen hatte, um zunächst ein geeignetes internationales Expertenteam zusammenzustellen.
Bei den sechs Mumien handelt es sich vermutlich um drei Generationen derselben Familie. Der Großvater hatte einen Bart, was nicht nur im alten Ägypten eine besondere soziale Bedeutung anzeigte. Nach den Waffen zu urteilen, mit denen er begraben wurde, könnte er ein Provinzgouverneur gewesen sein.
Mit ihm wurden den ersten Vermutungen der Archäologen zufolge seine Frau in das Mumiengrab gelegt sowie sein Sohn und seine Schwiegertochter mit deren beiden Kindern, die zum Zeitpunkt ihres Todes nur zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein dürften.
Durch Untersuchungen von DNA-Proben erhoffen sich die Wissenschaftler Aufschluß über das Geschlecht, das Verwandtschaftsverhältnis und die Todesursache.
Ihr Alter ist bereits datiert worden: 4.200 Jahre. Sie stammen damit aus einer Zeit, als die Kunst der Mumifizierung, wie Associated Press es zu formulieren beliebt, „noch in den Kinderschuhen steckte“. Aus der gleichen Epoche sind nur noch vier weitere Mumien erhalten.
Böse Welt der Rezipienten: der Hamburger Zeichner und Grafiker Horst Janssen fühlt sich über- und unterschätzt zugleich „und sowieso immer falsch interpretiert“. Im Göttinger Rathaus, wo seit gestern die mit fast 500 Bildern bisher größte Gesamtschau - ohne Frühwerk - des 62jährigen zu sehen ist, sagte der Künstler beim Hängen der Blätter bissig: „Erst wenn die Leute sich vorstellen müssen, meine Malerei sei Musik, dann hören sie mit den Interpretationen auf. Jedenfalls die meisten. Denn sie können keine Noten lesen.“ Zuvor waren die Bilder in mehreren Städten - darunter in Tokio, Oslo und Leipzig - zu sehen. Die Aquarellen,Zeichnungen, Stiche und Radierungen der „Japanischen Ausstellung“ stammen aus der Zeit zwischen 1970 und der Gegenwart. Zahlreiche Leihgeber aus allen Teilen Europas haben die Retrospektive ermöglicht, die von dem Hamburger Janssen-Verleger Dierk Lemcke zusammengetragen und von dem Göttinger Janssen- Verleger Tete Böttger nach Niedersachsen
gebracht wurde. Der mißverstandene Künstler will die Ausstellung vor 500 geladenen Gästen selbst eröffnen und dabei auch versuchen, dem Klischee vom „chaotischen Zeichen-Genie Janssen“ zu widersprechen und sich als ein Mann darzustellen (wie dpa zu melden beliebt), der aus Respekt vor dem Unscheinbaren immer wieder zum Zeichenstift oder der Radiernadel greift. „Die Leute könnten mich verstehen, es gibt hundert Bücher von mir mit 10 000 geschrieben und gedruckten Seiten. Seit 30 Jahren schreibe ich nun darüber und keiner liest es, sie sehen immer nur meine Bilder.“ Zu seinen Plänen befragt, sagte der seit einem Säureunfall um einen Teil seiner Sehkraft gekommene Künstler, im Augenblick arbeite er an großen Farbradierungen, die im kommenden Jahr zu sehen sein werden. Öffentlichkeit, wie jetzt in Göttingen, brauche er nicht. Er sei eher der introvertierte Typ, der zu Hause sitzt. Aber auch der Mensch, der nicht nein sagen könne, wenn Freunde ihn um eine Ausstellung bäten.
Kulturtransfer: Das Museum für Moderne Kunst in Chicago soll nach den Entwürfen von Josef Paul Kleihues gebaut werden. Die Pläne des 58jährigen Professors für Entwurf und Architekturtheorie an der Universität Dortmund wurden am Donnerstag vorgestellt. Das 55 Millionen Dollar teure Projekt soll die gegenwärtige Ausstellungsfläche des Museum of Contemporary Art vervierfachen. Der Neubau soll 1995 fertiggestellt sein. Die Entscheidung für den Kleihues-Entwurf löste Kritik aus, daß kein einheimischer Architekt bevorzugt worden sei. Der Mies-van- der-Rohe-Biograph Franz Schulze sieht die Entwürfe von Kleihues jedoch „in völliger Übereinstimmung mit der Tradition Chicagos“.
Die politischen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion haben den sowjetischen Film in größte Schwierigkeiten und die Produktion praktisch zum Stillstand gebracht. Wie der russische Regisseur Eldar Riasanow diese Woche anläßlich einer Retrospektive seiner Werke in Paris erklärte, wird die Gesamtproduktion dieses Jahr im Vergleich zum Vorjahr von vierhundert Filmen auf rund fünfzig zurückgehen. Ein Wiederaufschwung sei erst parallel zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung zu erwarten, doch werde eine völlige Normalisierung der Lage mit Sicherheit Jahre dauern. Zahlreiche RegisseurInnen sind in ihrer Existenz bedroht, und für den Nachwuchs ist die Zukunft vorerst verbaut, erklärte Riasanow, der im Westen vor allem mit den Komödien Karnavalnaja Notsch (1955) und Schestoki Romans (1985) bekannt wurde. Die Filmstudios in verschiedenen Republiken wie Lettland und Estland, die früher mit Subventionen aus Moskau lebten, müssen schließen. Auch der landesweite Vertrieb ist nicht mehr gewährleistet, seit die sowjetische Goskino von der russischen Roskino abgelöst wurde. Die Produktionsstätten der Mosfilm wurden in acht Studios aufgespalten und sollen demnächst von einer Aktiengesellschaft übernommen werden. Gleichzeitig hätten sich die Produktionskosten im Zuge der Preisfreigabe derart schnell erhöht, daß ihr Umfang kaum noch abzusehen sei.
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