piwik no script img

Teenage- Gefühle im Schnell- durchlauf

■ Familiy Stand und Red Hot Chili Peppers spielten in der ausverkauften Halle in Weißensee

Was mag junge Leute dazu bewogen haben, in Oldenburg, Lübeck und Stralsund ihren klapprigen Opel 1900 (Coupé, orange Originallackierung) zu besteigen, trotz schlechter Witterung und defekten Scheibenwischern gen Berlin zu stauen, dort in einer mehrstündigen Odyssee eine gewisse Halle im Industriegebiet Nordost zu erfahren, um schießlich im Regen vor ausverkauften Tatsachen zu stehen?

Zum Beispiel die Vorgruppe Familiy Stand, die sich auf der Bühne funkensprühend Funkduelle lieferte. Der Wind blies orkanartig um Dekaden zurück in die große Zeit von Mother's Finest, kehliger Gesang, nasty lyrics, peitschender Groove, fett heraushängende Bass-Figuren und Rockgitarren. Soul ohne Wattebäuschchen, HotRod-Gospel. Mitunter spielte sich die achtköpfige Band in eine solche Ekstase, daß vom Zucken und Schwitzen und Tun und Machen auf der Bühne die Energie- Orgonen in Strömen das verzückte Publikum überschwemmten.

Um in der Orgonen-Dekade zu bleiben: Vor nicht ganz zwanzig Jahren wäre Frank Zappa wohl ähnlich stürmisch gefeiert und aufrichtig geliebt worden, wie es die Menge gegen 21.30 Uhr den Red Hot Chili Peppers antat. Dabei waren einige wahre Fans gar nicht erst zur Starbeschau erschienen — aus Angst, die Band könnte enttäuschend spielen und langgehegte Jugendträume müßten an einer im Hier und Jetzt dilettierenden Kombo zerplatzen. Zappa hatte zu seinen Kultzeiten ebenfalls so manche Freakidylle mit Live- Langeweile zunichte gemacht.

Nicht so die Chili Peppers. Von Beginn an verschwendeten sie alles, was ihnen nach dreieinhalbmonatigem Touren an Energie noch zur Verfügung stand — immer noch mehr, als Guns'n'Roses frisch verkorkst zu Wege bringen, und fast soviel, wie Altmeister James Brown mit frischen Einlegesohlen aufs Parkett legt.

Sänger Anthony Kiedis hat sich als Bühnenkostüm eine Radlerhose aus silbernem Lamé, ellenlange Handschuhe und das breite Grinsen der Blues Brothers zugelegt. Ansonsten ist er wie der Rest der Gruppe (fast) unbekleidet, von gesunder Oberkörpernacktheit. Endlich einmal kann man die aufregenden Tätowierungen der Peppers beim Muskelspiel bewundern. Leider reckt sich flächendeckend eine Reihe preußischer Zottelknaben empor, deren Gardemaß die meiste Zeit jede Sicht versperrt.

Immerhin zu Ohren kommen betäubende Schlagzeugschläge, stets auf die Snare, und eine seltsam geordnete Hektik und Spielfreude, die völlig unverdrogt überhaupt nichts mehr mit den Seventies zu tun hat. Aufgeregt wie junge Füllen springen die mittlerweile gestandenen Musiker herum, heben sich wie von Adlerschwingen getragen meterhoch in die Lüfte und tragen auch sonst das Ihrige zum neuerwachten Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten made in USA bei. Schneller, härter, präziser, aufrichtiger — Jugendkultur im Superlativ. Plötzlich meint man, unter infernalisch krachenden Gitarrenklängen das gute alte Radar Love zu erkennen, doch schon schaltet die Band auf ein anderes Programm um. Sportschau oder Melodram, die Red Hot Chili Peppers bewegen die ganze Welt der Teenage- Gefühle im Schnelldurchlauf über den Bühenboden. Irgendwann wird sogar eine Discokugel angeleuchtet, die flitternde Sternchen auf strahlende Gesichter wirft.

Dann rotiert die Band von Neuem und rockt aufs Ganze gehend den Hitblock herunter. Mit Under The Bridge, der sanften Ballade über L.A., einer Art Liebeserklärung an das Überleben in der Großstadt, rühren sie kurz vor Schluß noch einmal kräftig an die Herzen der Berliner. Szenepatrioten und einsame Stadtstreicher singen ergriffen mit, die Feuerzeuge bleiben in der Hosentasche. Später rollt der Opel aus Lübeck in the middle of nowhere zwischen Wittstock und Wittenberge durch die Walachei nach Hause. Harald Fricke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen