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Aids: Warnung vor Entwarnung

Im Vorfeld des Vierten Deutschen Aids-Kongresses in Wiesbaden sprechen Aids-Forscher und „Kliniker“ von einem erheblichen Anstieg von Neuerkrankungen unter Heterosexuellen  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — „Seit dem Auftreten der Syphilis hat kaum eine sexuell übertragbare Infektionskrankheit so sehr die Lebensqualität und das Zusammenleben der Menschen bedroht wie Aids.“ Mit dieser eindringlichen Warnung wandte sich der Mikrobiologe Professor H. W. Doerr auf einer Pressekonferenz zum Vierten Deutschen Aids-Kongreß an seine Zuhörer. Professor Doerr ist gleichzeitig Vorsitzender des Organisationskomitees Rhein/ Main für den Aids-Kongreß, der vom 23. bis 28. März in Wiesbaden stattfindet. Er warnte vor dem „Gewöhnungseffekt“ und vor der Kürzung der Mittel für die Aids-Forschung. Dies ging vor allem an die Adresse des Bundesgesundheitsministeriums. „Die Gefahren durch die weitere Ausbreitung von Aids wachsen“, so Doerr. Und alleine im Großraum Frankfurt/Main würde pro Monat bei etwa 50 Menschen das HIV-Virus neu diagnostiziert. Professor Doerr glaubt, daß dies „vielleicht ein aufsteigender Eisberg“ ist.

Die sieben deutschen Wissenschaftler und Mediziner im Hörsaal des Aids-Forschungszentrums der Universitätsklinik wandten sich dagegen, daß in der öfffentlichen Debatte Homosexuelle und Drogenabhängige als alleinige Risikogruppen dargestellt würden. Diese „veröffentlichte Meinung“ sei für den „gefährlichen Gewöhnungsgseffekt“ verantwortlich. Gerade bei den Heterosexuellen, so Professer W. Stille von der Frankfurter Universitätsklinik, müsse von einem „langsamen, aber stetigen Anstieg“ bei den Neuerkrankungen gesprochen werden. Und in verschiedenen Ländern der dritten Welt seien schon heute rund 80 Prozent der Virusträger heterosexuelle Männer und Frauen. In Deutschland, so Doerr, seien zur Zeit rund 8.000 Menschen an Aids erkrankt — „und zehnmal so viele Menschen sind als HIV-Positive registriert“.

In den von Aids besonders betroffenen Ländern der dritten Welt könnten nur noch präventive Maßnahmen die rasante Ausbreitung der Seuche verhindern. Daher arbeiteten Forscher in Europa und den USA fieberhaft an der Entwicklung von Impfstoffen. Doch während die Wissenschaftler vor allem in den USA nach jahrelangen Versuchen mit Schimpansen und Rhesusaffen die Auffassung vertreten, daß man bereits zu „Menschenversuchen“ übergehen könne, warnen die Europäer vor „übereilten Schritten“. Die in den USA entwickelten Impfstoffe, so die Chemotherapeutin Professorin H. Rübsamen-Weigmann, müßten eigentlich auch nach Auffassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei „Menschenversuchen“ in Ländern „mit extrem hoher Durchseuchung“ zum Einsatz kommen. Doch gerade die US-Seren würden gegen die in den vier von der WHO ausgesuchten Ländern auftretenden Virusspielarten „nichts ausrichten“ können.

Insgesamt „sechs verschiedene Geschmacksrichtungen“ (Rübsamen-Waigmann) des HIV-Virus seien bislang weltweit entdeckt worden. Und etwa im Norden von Thailand sei das Virus schon anders strukturiert als etwa in Bangkok. Die verschiedenen Viren werden im Paul- Ehrlich-Institut in Frankfurt gesammelt und dann zur vergleichenden Forschung nach England verbracht. Rübsamen-Waigmann: „Wir stehen hier noch am Anfang. Die neueste Variante des HIV-Virus wurde erst kürzlich in Indien endeckt.“

Dennoch, so die Wissenschaftler übereinstimmend, erfolge die Entwicklung der Impfstoffe nicht lediglich nach dem Prinzip Hoffnung. Allerdings bestehe die Gefahr, daß man mit der Entwicklung eines solchen „Cocktails“ der Virusentwicklung hinterherlaufe — und deshalb müsse vor allem die gentechnologische Forschung forciert werden.

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