Fichter und Fichte

■ Die europäische Linke muß den Geschichtslegenden der europäischen Rechten begegnen — eine Replik von Peter Glotz auf Tilman Fichters Debattenbeitrag — Vorabdruck aus 4/92 der 'Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte‘

Die Entspannungspolitik des Westens gegenüber dem Osten, kurz „Ostpolitik“ genannt und von niemand anderem konzipiert als von zwei deutschen Sozialdemokraten, Willy Brandt und Egon Bahr, war einer der Gründe für den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Kein Zweifel, sie war nicht der Hauptgrund. Der lag im „realsozialistischen“ System selbst; in der Unfähigkeit der zentralen Verwaltungswirtschaft zur sinnvollen Allokation von Gütern und Dienstleistungen, in der Zerstörung menschlicher Initiative durch rigide Kommandostrukturen, in der Entmutigung kritischer Geister und der brutalen Verfolgung von Menschen, die irgendwelche oppositionellen Regungen zeigten.

Auch die Hochrüstung hat dazu beigetragen, daß Gorbatschow zuerst das Vorfeld seines Reiches, kurz darauf das Reich selbst zur Disposition stellen mußte; die Hochrüstung hat die Wirtschaft der Vereinigten Staaten schwer gefährdet, die Wirtschaft der Sowjetunion aber zerstört. Aber so dialektisch geht es in der Geschichte eben manchmal zu: Neben der offensiven (und hochgefährlichen) Rüstung hat die scheinbar defensive, sanfte Ostpolitik die Kommunisten besiegt.

Nur sie hat die Nomenklatura gezwungen, mit den jeweiligen Oppositionsbewegungen einigermaßen vorsichtig umzugehen. Nur sie hat es erreicht, daß die Störsender abgestellt wurden und die Konterinformationen der westlichen Auslandssender die Bürger des östlichen Imperiums erreichen konnten. Nur sie hat es möglich gemacht, daß sich die Zahl der Westkontakte im Osten vervielfacht hat; und dadurch die Kenntnis alternativer Lebensformen, der Unwille mit dem stockigen, unbeweglichen, spröden und im Zweifel brutalen kommunistischen System.

Angesichts der Erfolge der Ostpolitik ist es um so verwunderlicher, daß in der westeuropäischen, insbesondere aber in der deutschen Sozialdemokratie eine larmoyante, selbstanklägerische und rechthaberische Debatte um die Ostpolitik beginnt. Tilman Fichters Essay Die SPD und die nationale Frage ist ein ebenso plastisches wie fragwürdiges Beispiel für diese Tendenz. Wenn die europäische Linke den Geschichtslegenden der europäischen Rechten (die inzwischen ja auch in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten regiert) begegnen will, muß sie dieser Art von Argumentation rasch und entschieden in die Parade fahren.

Unhistorische Kritik

Fichter argumentiert wie der berühmte Mann, der aus dem Rathaus kommt. Es ist ihm durchaus einzuräumen, daß er seit langem zu jener kleinen, feinen Truppe der national „sensiblen“ Geister innerhalb der Sozialdemokratie gehört; wen wundert es, daß diese Truppe derzeit wächst. Aber auch einer, der wähnt, durch „die Geschichte“ bestätigt worden zu sein, muß bei einer Kritik an der Vergangenheit fair in Rechnung stellen, was man in jenen vergangenen Zeiten wissen konnte und was nicht. Dieses Grundprinzip historischer Wertung mißachtet Fichter mehrfach.

So ist die Kritik am Verhalten Bundeskanzler Helmut Schmidts bei seinem DDR-Besuch im Dezember 1981 unhistorisch. Zu jener Zeit regierte im Kreml der Breschnewismus. Eine Machtübernahme von Solidarność im Jahr 1981 hätte ohne Zweifel einen Einmarsch der Sowjets nach sich gezogen. Man kann darüber diskutieren, ob es möglich gewesen wäre, durch eine demonstrative Unterstützung von Solidarność aus dem Westen den General Jaruzelski zu rascheren und größeren Zugeständnissen an die innere Opposition zu nötigen. Bei der Polenpolitik der SPD der frühen 80er Jahre sind in der Tat einige gravierende Fehler gemacht worden; ich komme darauf zurück. Daß Schmidt aber einen Tag nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen die deutsch- deutsche Entspannungspolitik hätte zur Disposition stellen sollen, ist eine fragwürdige Forderung.

Schmidt konnte in diesem Augenblick keine Ahnung davon haben, daß im Jahr 1985 ein Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU in Moskau werden würde. Es gab keinerlei Anzeichen für die Chance, die Grundlinie der Breschnewschen Politik umzustürzen. Wie hätte Schmidt ahnen sollen, daß eine symbolische Geste in Güstrow — als erster Schritt eines langen Weges von vielen tausend Schritten — zehn Jahre später als prophetische Tat gefeiert worden wäre?

Noch abwegiger ist Fichters Kritik an Egon Bahrs Satz „Kein Ziel rechtfertigt den Krieg: weder die deutsche Einheit, noch die Freiheit der Polen.“ Dieser Satz ist richtig und bleibt richtig. Damals ging es nämlich nicht um begrenzte Kriege wie heute; daß auch sie schrecklich genug sein können, zeigt der nationalistische Konflikt zwischen Serben und Kroaten. Damals ging es um den Nuklearkrieg. Und jeder Politiker, der zu jener Zeit handeln mußte, hatte davon auszugehen, daß das Politbüro der KPdSU jeden Versuch, ein Land aus dem Cordon sanitaire der Sowjetunion herauszubrechen, mit Krieg beantwortet würde. Der Satz, die Polen hätten sich „auch im Namen des Friedens“ nicht bevormunden lassen, ist monströs. Auch „individuelle Freiheit“ und „nationale Souveränität“ waren keine Ziele, für die man Millionen Tote hätte riskieren dürfen.

Zu der langsam landläufig werdenden Kritik an dem Ideologiepapier, das die Grundwertekommission der SPD gemeinsam mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaft der DDR publizierte, zitiere ich schlicht einen der Kronzeugen Tilman Fichters, Peter Brandt. Er hat — in der 'FAZ‘ — eine Studie des früheren SED-Funktionärs Manfred Uschner zur Ostpolitik der SPD rezensiert. Brandt: „Uschner läßt keinen Zweifel daran, daß die Verhandlungen und Abmachungen mit der SPD auf die SED eher aufweichend als stabilisierend wirkten, namentlich das Ideologiepapier von 1987, und der Dialog von den in der DDR Herrschenden daher auch schon eine ganze Zeit vor der Wende wieder eingefroren wurde.“ Ob Peter Brandt und Manfred Uschner die Sache nicht realistischer sehen als Tilman Fichter?

Bleibt die seltsame Verschwörungstheorie gegen die „Flakhelfergeneration“. Was ist eigentlich falsch an Horst Ehmkes kühler Feststellung, die europäischen Nachbarn wären an einer Aufrechterhaltung der deutschen Teilung interessiert gewesen? Nichts. Wieso wird eigentlich die Kritik des Sozialphilosophen Jürgen Habermas am „Wirtschaftsnationalismus“ der Bundesregierung durch die Tatsache entkräftet, daß die DDR-Wirtschaft im Jahr 1990 bankrott gewesen ist? Niemand hat das Ausmaß dieses Bankrotts gekannt: Habermas nicht, Fichter nicht, Kohl nicht, die DDR-Forschung nicht, nicht einmal der CIA. Und wollte Günter Grass wirklich der Bevölkerung in der untergehenden DDR ihr Selbstbestimmungsrecht absprechen? Er zweifelte daran, daß eine Zusammenfügung der beiden Staaten, Bundesrepublik und DDR, sinnvoll sei. Die Ostdeutschen hätten — wäre es nach den Konzepten von Grass gegangen — ihr Selbstbestimmungsrecht in einem eigenen Staat wahrnehmen sollen. Über diese deutschlandpolitischen Auffassungen von Günter Grass kann man füglich streiten. Die Behauptung aber, daß dieser Mann ein gebrochenes Verhältnis zum „Selbstbestimmungsrecht“ habe, paßt zu Volker Rühe besser als zu Tilman Fichter.

Selbstkritik und Gegenbeispiele

Ich bestreite nicht, daß im Vollzug der Ostpolitik Fehler gemacht worden sind. Da und dort mag der regelmäßige Kontakt von Funktionären kommunistischer und sozialdemokratischer Parteiapparate falsche Vertraulichkeiten erzeugt haben. Anfang der 80er Jahre war die SPD in ihren Kontakten mit den polnischen Kommunisten zu vertrauensselig, mit den Oppositionskräften um die Gewerkschaft Solidarność zu furchtsam.

Aber es gibt in der Geschichte der Ostpolitik eine Fülle von Gegenbeispielen. Die sozialdemokratischen Politiker Erhard Eppler und Jürgen Schmude haben engen Kontakt zu den oppositionellen Kräften der evangelischen Kirche der DDR gehalten. Willy Brandt hat einem Besuch in Prag zugestimmt, nachdem er die Entlassung des seit vielen Jahren eingesperrten Rudolf Battek erreicht hatte.

Ich selbst habe bei mehr als 20 Besuchen in der Tschechoslowakei neben der Partei- und Staatsführung immer auch die jeweiligen Sprecher der Charta 77 und andere Oppositionelle gesprochen: Jiri Dienstbier das erste Mal beim konspirativen Treffen im Atelier eines Bildhauers. Vor allem aber war das Motiv der engen Kontakte zu den kommunistischen Eliten der Ostblockparteien absolut zwingend. Die Überrüstung erzeugte die Gefahr einer nuklearen Zerstörung Europas und ruinierte, selbst wenn niemals eine Rakete abgeschossen worden wäre, die Ökonomien der europäischen Staaten. Wie mag es kommen, daß trotzdem manche Sozialdemokraten von der Ostpolitik nur noch in entschuldigendem Ton sprechen und ein ganzes Schock angesehener Intellektueller der nicht-kommunistischen Linken links von der SPD inzwischen so tut, als seien die Verhandlungen mit Kommunisten über die Abrüstung so etwas ähnliches gewesen wie die Kollaboration des Marschalls Petain mit Adolf Hitler?

Wenn die deutsche Linke in ihrer Verteidigung der Ostpolitik nicht offensiver wird, als sie es heute ist, werden die Historiker in einer späteren Zeit die Ostpolitik als Konzession an den Totalitarismus darstellen.

Ich erinnere mich an das Gespräch mit Jiri Dienstbier in jenem Bildhaueratelier. Er saß neben dem verfolgten katholischen Priester Vaclav Maly, dieser hockte neben einem Kohleofen und hatte seine Pullover ausgezogen; der Priester im T- Shirt— die Soutane war ihm verboten. Dienstbier erläuterte mir die innere Struktur seiner Bewegung. Sie bestünde aus drei Elementen: aus Reformkommunisten — Anhängern von Alexander Dubcek — aus katholischen Kreisen vor allem der Slowakei und aus bürgerlichen Antikommunisten, von denen einige wünschten „dem Bilak (gemeint war der starke Mann der KPC, Vasil Bilak) eine Atombombe auf den Kopf zu hauen“.

Man könne derzeit niemanden, der gegen das Regime kämpfe, von diesem Kampf ausschließen. Jeder einzelne werde gebraucht. Aber wir sollten uns ja nicht einbilden, daß all seine Leute von demokratischem Gedankengut durchdrungen seien. Als sich der Staub der Revolution verzogen hatte, konnten alle sehen, wie recht Jiri Dienstbier damals, im Jahr 1985, gehabt hatte. Einer der in Deutschland am meisten gefeierten Dissidenten gegen die jugoslawischen Kommunisten war der serbische Intellektuelle Vojislav Seselj, heute der unerbittlichste serbische Nationalistenführer, ein Mann voller Intoleranz und Grausamkeit. Die Biographie von Seselj entschuldigt nicht die übertriebene Vorsicht von Sozialdemokraten beim Umgang mit Jacek Kuron oder Adam Michnik in Polen. Sie macht aber deutlich, daß sich Ostpolitiker notwendigerweise in vermintem Gelände bewegen mußten.

Es ist töricht, die Gleichgültigkeit, mit der viele Konservative zwischen der Konferenz von Jalta und dem Jahr 1989 Osteuropa begegneten, als charaktervollen Antitotalitarismus auszulegen. Es ist aber noch törichter, wenn die Linke zuläßt, daß ausgerechnet ihre, von den Kommunisten als „Sozialdemokratismus“ bekämpfte und gefürchtete Politik, als eine Art von Kollaboration mißdeutet wird. Genau das aber geschieht; und die Linke läßt es geschehen.

„Urvertrauen“ in demokratische Strukturen?

Wo bei Tilman Fichter der Hase im Pfeffer liegt, kann man an zwei Stellen sehen. Die eine handelt vom „Urvertrauen der deutschen Linken in die demokratische Kultur unseres Landes“, die stark gestört sei. Die andere steckt in der Redewendung von der „künstlichen Spaltung Deutschlands“. Ein Rüchlein von Rousseauismus und von romantischem Nationalismus umgibt diese Formulierungen.

Urvertrauen? Woher soll es kommen? Aus der (preußischen) Erinnerung an 1807? Den „Freiheitskriegen“ folgten die Karlsbader Beschlüsse. An 1848? 1849 versank Deutschland, ohne großen Widerstand des Volkes, in Jahrzehnte der Reaktion. Aus der Erinnerung an die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914? Aus der Erinnerung an das Jahr 1933? Mit der Arbeitshypothese, die der österreichische Publizist Günther Nenning formuliert hat, kann ich leben. Er hat vorgeschlagen, daß die Politiker sich immer wieder einmal sagen sollten: Vielleicht sind wir blöd und nicht das Volk. Aber „Urvertrauen“? Dazu gibt unsere Geschichte wenig Anlaß.

Was die „künstliche Spaltung“ anbetrifft, zitiere ich einen geschätzten väterlichen Freund Tilman Fichters, den englischen Historiker Eric G. Hobsbawm. In seinem Buch Nationen und Nationalismus hat er geschrieben: „Wie die meisten ernsthaften Forscher betrachte ich die 'Nation‘ nicht als eine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit. Sie gehört ausschließlich einer bestimmten und historisch jungen Epoche an. Sie ist eine gesellschaftliche Einheit nur insofern, als sie sich auf eine bestimmte Form des modernen Territorialstaats bezieht, auf den 'Nationalstaat‘, und es ist sinnlos, von Nationen und Nationalität zu sprechen, wenn diese Beziehung nicht mitgemeint ist.

Außerdem schließe ich mich Ernest Gellner an, wenn er das Element des Künstlichen, der Erfindung und des social engineering betont, das in die Bildung von Nationen miteinfließt. [...] Nicht Nationen sind es, die Staaten und Nationalismus hervorbringen, sondern umgekehrt.“ Fichter sollte Fichte lesen; die schrecklichen Reden an die deutsche Nation. Die Katharsis, die ihn dann ereilen dürfte, wird es wohl verhindern, daß er je wieder einen Essay wie den über die SPD und die nationale Frage schreibt.

Der stark gekürzte Aufsatz Tilman Fichters unter dem taz-Titel „Kein kultureller Bezug zur Freiheit“ ist am Montag, dem 23.März, auf Seite19 erschienen.